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Hintergrund

Auf zwei Rädern, ganz bei sich

1000 Kilometer im Sattel. Ohne Plan, ohne vorgegebene Strecke. Durch Schnee, Kälte und die Nacht: die Faszination des «Unknown Race».

Der folgende Beitrag des Autoren Urs Mannhart stammt aus dem Magazin «Reportagen». Wir können dir den Text dank einer Partnerschaft hier zugänglich machen. Gefällt dir diese Art Journalismus kannst du das Magazin hier kostenlos kennenlernen.

Noch liegt das Tal unter dem Mantel der Nacht, mein Blick gehört der Strasse, gehört den nächsten Metern, und deswegen erkenne ich sie erst im letzten Moment: die kleine Bäckerei, zwei Querstrassen von meiner Route entfernt. Golden und einladend schimmert das Licht des dazugehörigen Cafés durch die Vorhänge, fliesst hinaus in das am Fuss der Berge schlafende Dorf.

Sogleich trete ich in die Bremsen, biege ab. Ich bin mir sicher, Lars hat die Backstube auch gesehen, aber ich sehe kein Fahrrad an der Fassade lehnen, folglich ist klar, dass Lars – einmal mehr – ohne ­Pause weiterfährt. Darüber kann ich nur den Kopf schütteln. Oder beneide ich seine grosse Disziplin?

Vor der Tür der Bäckerei stehend lese ich, dass erst um 6 Uhr geöffnet wird – die Uhr meines Navigationsgeräts zeigt 5:57. Drei Minuten lang stehe ich hungernd und fröstelnd wenige Schritte neben der Tür, nestle am Rennrad herum, tue, als hätte ich zu tun. Ich bin ­etwas enttäuscht, dass das Personal, mit dem ich durch die geschlossene Schiebetür hindurch Blickkontakt habe aufnehmen können, derart streng mit den Öffnungszeiten umgeht und einem durchgefrorenen Velofahrer keine Ausnahme schenken mag.

Dann zeigt mein Navi 6:00 Uhr, eine Kirchenglocke ertönt, und aus der dämmrigen Strasse hinter mir erscheint mit schneidigem Schritt eine Seniorin, deren Frisur ähnlich stabil anmutet wie mein Fahrradhelm. Sie überholt mich auf den letzten Metern, hat auf dem Weg zur Schiebetür klar die Nase vorn und wird als Erste eingelassen. Gut, vielleicht ist dieses absurde Rennen schuld, dass ich die Situation so wahrnehme; immerhin aber verkörpert diese Dame wohl den Grund, warum die Mitarbeitenden wirklich erst Punkt 6 Uhr aufsperren.

Ich bestelle zwei Tassen Kaffee, zwei Croissants, zwei mit Käse belegte Brötchen, einen dicken Brownie – und frage die leicht irritierte Bedienung, ob sie mein Telefon aufladen könnte; ich habe, erkläre ich, um Gewicht zu sparen, nur das Kabel dabei, keinen Stecker.

Kaum habe ich die erste Tasse geleert, kommen zwei ­andere Fahrer ins Café, setzen sich zu mir, zwiebeln sich aus ihren Kleidungsschichten. Ihre Gesichter: zerknittert. Wangen und Stirn: gerötet. Überall klebt Strassendreck und Schlafmangel an den beiden; insgesamt bieten sie keinen besonders frischen Anblick. Ich bin froh, erinnert mich kein Spiegel daran, dass ich ein wohl ähnlich zerknittertes und beschmutztes Gesicht trage. Wir tauschen uns aus, besprechen die Strecke, die kurze Nacht, auch mir läuft noch immer der Rotz.

Nun kommt die Bäckersfrau an den Tisch, serviert mehr Brötchen, mehr von dem ersehnten Kaffee, und ich sehe die Fragen in ihrem Gesicht, viele kleine Fragen, die sich sammeln und aufgehen wie ein Hefeteig: Sie will wissen, was uns dazu bringt, vor Tagesanbruch und mitten im April, wenn der Winter nochmals seine Kraft zeigt, unsere Renn­räder auszufahren.

Ich erkläre, dass wir an einem kleinen Rennen teilnehmen, «The Unknown Race». Vor 23 Stunden sind wir gestartet, 260 Kilometer liegen bereits hinter uns.

Die anderen beiden lachen kraftlos; die Bäckerin schaut mich weiter fragend an.

Ich schildere, dass wir tags zuvor in Wien gestartet sind, in der Früh, und nun hinüber müssen nach Slowenien. Wie es von dort weitergehe, würden wir erst an Checkpoint 2 erfahren – dies sei das Konzept des «Unknown» –, klar sei nur, dass wir am Abend des vierten Tages, nach ungefähr tausend Kilometern, zurück in Wien sein müssen, denn dort gebe es ein Bier und eine kleine Party.

Die Bäckerin hält mich offenbar für einen Scherzkeks; auffordernd blickt sie zu den beiden anderen Fahrern. Die korrigieren meine Schilderung nicht, sondern beissen in ihre Brötchen, als hätten sie zwei Tage nichts gegessen.

Im langen Aufstieg umgeben mich eindrucksvolle Felswände, mein Blick geht hoch zu grimmigen, schneebedeckten Flanken und hinunter zu einem tosenden Bergbach. Es dauert, bis ich den richtigen Gang, bis ich zu einem Rhythmus finde. Vierunddreissig-Fünfundzwanzig; vorne im kleinen Blatt, hinten auf dem dritten Ritzel, es wird klug sein, jetzt keinen grösseren Gang zu drücken. Der Kaffee verrichtet zwar seinen Dienst; hinter meiner Stirn bin ich wach, ich höre sogar die Vögel in ihrem kommunikativen Eifer, aber schwer liegen mir die Brötchen im Bauch, und von Hals bis Hüfte schlafe ich noch.

Nach den ersten 200 Höhenmetern halte ich an, ziehe meine Jacke aus, denke erneut an Lars, der wohl nie anhalten würde, um die Jacke auszuziehen, der sie entweder einfach trägt, egal, wie arg er schwitzt, oder sie während des Fahrens auszieht. Gut möglich, dass Lars nun schon mehr als eine Stunde Vorsprung auf mich herausgefahren hat; ich habe das Hotel sicher zwanzig Minuten nach ihm verlassen. Aber falls ich nicht falschliege, wird sich die Zeit auszahlen, die ich soeben ins Frühstück investiert habe. Biete ich meinen Beinen keine Brötchen, hängen sie an meiner Hüfte wie welke Fahnen am Mast bei Windstille.

Nach der nächsten Serpentine erkenne ich, einen Radfahrer in der Abfahrt. Ich frage mich, wer zu dieser Tageszeit bei diesen Bedingungen auf die Idee kommt, eine Radtour zu. Dazu noch über den Triebener Tauern, einen Pass, der heute, auf 1300 Metern liegend, Schnee erhal- ten wird. Als der Fahrer näherkommt, bremst er ab, kommt auf mich zu. Natürlich: Auch er gehört zu dem Rennen, aber er sieht nicht ­besonders glücklich aus.

Ich fürchte, er werde mir gleich erzählen, der Pass sei zugeschneit.

Er könne nicht mehr schalten, erklärt er, sein Rad sei quasi eingefroren, und ein Teil des Bremsschalthebels sei abgebrochen; er könne so nicht weiter am Rennen teilnehmen.

Ich nicke, nehme Anteil; nach Monaten der Vorbereitung auf ein solches Rennen ist das ein bitterer Moment. Ich erzähle ihm von der Bäckerei gleich im ersten Dorf, wünsche ihm viel Glück. Als ich weiterfahre, bin ich froh, dass bei mir nichts eingefroren ist. Obwohl das nur logisch wäre. Schon gestern hätte es mich nicht erstaunt: Beim Start in Wien war es schwer bewölkt, aber trocken gewesen, und ein paar Optimisten unter den 150 Menschen, die sich zum Start des Rennens versammelten, trugen tatsächlich kurze Hosen. Die Vorhersagen jedoch lagen richtig: Am späten Nachmittag setzten Niederschläge ein, aus dem aufgewühlten Himmel lösten sich fette Tropfen, und bald schon fiel, prognosekonform, ein nasser Schnee.

Es war bereits nach 20 Uhr, als ich, 227 Kilometer hinter Wien, das kleine Liezen erreichte, jenes Dorf, aus dessen Mitte eine irrwitzig steile Bergstrasse hochführte zum ersten Checkpoint. Tagsüber war ich oft allein gefahren, hatte mal bei jener Bäckerei, mal bei jenem Tankstellenshop andere Teilnehmende angetroffen, hatte mit einem verstohlenen Blick deren Rennrad und das Volumen ihrer Taschen registriert, mich gefragt, ob mein Rad doch zu schwer sei, meine Taschen doch zu voll, um dann allein weiterzufahren – nun war ich froh, hatte mich der Zufall zu zwei anderen Fahrern gesellt, mit denen ich den schneegeschmückten Aufstieg beginnen konnte. Mit Lars aus Hamburg hatte ich tagsüber bereits einen angenehmen Schwatz halten können; er fährt, elegant gekleidet, die lange Nase ruhig im Wind, einen tadellos runden Tritt, sitzt in einer perfekten Position. Aber jetzt, da ich neben ihm die steile Strasse hochkletterte, zeigte sich, dass sich diese Ästhetik nicht auf sein Rad überträgt: Rahmen und Antrieb fabrizierten im Anstieg einen Lärm, der mich immer wieder denken liess: Gleich wird ihm die Kette reissen! Gleich wird ihm das Tretlager aus dem Rahmen fliegen! Noch drei Umdrehungen, und es wird die Kurbel in fünf Stücke brechen!

Nichts von alldem geschah, und ich gewöhnte mich daran: Der elegante Lars drückt geschmeidig und ohne sichtbare Anstrengung in die Pedale – knarzend und ächzend, als hätte es nichts mit seinem Fahrer zu tun, quält sich unter ihm sein Rad.

Mit dabei in diesem Anstieg war zudem ein junger Wilder, nach dessen Namen ich leider nicht gefragt habe. Ungeachtet aller Umstände fuhr er in kurzer Hose, ganz ohne Handschuhe auch. Er war bester Laune und sah aus, als wäre er auf einer sommerlichen Radtour einmal kurz falsch abgebogen. Jedenfalls war es mir mental eine grosse Hilfe, zusammen mit einem eleganten Lars, seinem schmerzgeplagten Rennrad und einem jungen Wohltemperierten nach 20 Uhr im Lichtkegel dreier Fahrradlampen in eine von mehr und mehr schneebedeckte Nacht hineinfahren zu können.

Es dauerte nicht lange, und der Schnee bildete eine dünne, aber solide Decke auf der schlanken Bergstrasse. Meine Reifen verloren den letzten Halt, ich musste absteigen und schieben. Ich sah mich bereits bis nach Mitternacht zu diesem lächerlichen Checkpoint hochstapfen. Aber irgendwann wurde die Strasse etwas flacher, dicht stehende Bäume fingen viel Schnee auf, ich konnte wieder fahren.

Schneefall, schwankende Lichter, der still den Winter erduldende Wald, das Bemühen, den eigenen Körper davon zu überzeugen, trotz allem auch Finger und Füsse warm zu halten, dazu ein paar von Atemzügen unterbrochene Sätze, kleine, an der Anstrengung vorbeigeschmuggelte Worte von fremden Menschen, denen ich mich nach drei gemeinsamen Kurbelumdrehungen bereits freundschaftlich verbunden fühlte.

Der Checkpoint? Nichts als ein einsames, von einer Folie geschütztes Blatt Papier, unscheinbar an einem Pfosten hängend. Darauf notiert: zwei lange Zahlen, die Koordinaten des nächsten Checkpoints. Lars holte flink sein Telefon hervor und fotografierte die Zahlen; ich wollte es ihm gleichtun, bekam aber die kalten Hände nicht aus den Handschuhen. Der Wohltemperierte? Notierte sich die Koordinaten mit einem Stift – sein Telefon war erfroren.

Der Checkpoint war geschafft, aber das Schwierigste stand bevor: die Abfahrt im Schnee. Nur wenige Dinge sind anstrengender als die Anstrengung, die nötig ist, um in einer solchen Abfahrt unangestrengt zu bleiben. Aber locker bleiben – in der Hüfte, im Rücken, vor allem aber in den Schultern, Armen, Handgelenken – ist die einzige Chance, eine Situation, in der ein Sturz deutlich wahrscheinlicher ist als die Weiterfahrt, überhaupt handhaben zu können.

Irgendwann, ungefähr in der Mitte der Abfahrt, begann ich derart zu zittern am ganzen Leib, dass die Vibration auf den Lenker, auf die ganze vordere Hälfte meines Rennrades überging. Was den Versuch, in den eine minimale Stabilität versprechenden Spuren zu bleiben, nicht einfacher machte.

Wie durch ein kleines Wunder, so schien es mir nach 236 Kilometern und 2800 Höhenmetern, blieben auch Lars und der Wohltemperierte sturzfrei. Als wir, unten in Liezen ankommend, die zahllosen Rennräder entdeckten, die an der Fassade einer Pizzeria lehnten, gab es kein Zögern.

Zwei Dutzend unterkühlte, schnee- und schweisstriefende, endlos hungrige Rennfahrerinnen und Rennfahrer hatten das Lokal in Besitz genommen. Überall lagen und hingen durchnässte Velokleider, weisse und rote Lämpchen blinkten, Oberkörper dampften, Pfützen glänzten, die Luft war erfüllt vom Seufzen, von Schweiss, vom Lachen der Erschöpften und Halberfrorenen. Weil die meisten gewohnheitsgemäss ihren Helm auf dem Tisch abgelegt hatten, waren diese Tische wegen des schmelzenden Schnees längst verwandelt in sumpfartige Überschwemmungsgebiete; dass die Pizzen ohnehin in Kartonschachteln serviert wurden, schien stimmig.

Ich sah meine Finger, fühlte sie aber nicht; Lars half mir, den Helm und die Handschuhe auszuziehen. Mein Unterkiefer war so kalt, dass er beim Sprechen nicht mit der noch warmen Zunge mithalten konnte – so gut es eben ging, bestellte ich zwei Portionen Pommes.

Ein dampfender Rennfahrer sprach mich an, erzählte mir von einem Hotel ganz in der Nähe, dessen Reception in fünfzehn Minuten schliessen würde. Zwar hatte ich einen Schlaf- und einen Biwaksack mitgeschleppt, aber das war wohl ein fahrlässiger Optimismus gewesen. Ich fragte Lars, ob er auch ein warmes Zimmer nötig habe. Schwer zitternd nickte er, wahrscheinlich auch, weil er keine Energie hatte, den Kopf zu schütteln, und noch ehe die Pommes serviert wurden, stand ich an der 500 Meter entfernt gelegenen Reception.

Der ältere Herr des Hotels war ganz begeistert, einen Menschen aus der Schweiz vor sich zu haben; mit einer Laune, die er für geeignet hielt, mir das Gefühl zu vermitteln, ich sei herzlich ­willkommen, erzählte er mir wort- und gestenreich, dass er sich gerade heute überlegt habe, für sein Hotel einige wirklich schöne, in der Schweiz und aus hochwertigem Stahl gefertigte Käsereiben anzuschaffen. Die Herstellerfirma heisse Zyliss, und er sei neugierig zu erfahren, ob ich, als Schweizer ja zwangsläufig ein Experte auf jenem Fachgebiet, diese doch stupend kostenintensive Käsereibe empfehlen könne.

Im normalen Leben nehme ich mich meist als einen ruhigen, konfliktscheuen Menschen wahr. Aber normal war gerade wenig; am liebsten hätte ich den Mann durch eine Käsereibe geraffelt: Ich wollte nicht plaudern, ich wollte ein warmes Zimmer und eine warme Dusche!

Immerhin, es waren noch Zimmer frei, sie waren erschwinglich, und das Hotel erschien mir, soweit ich mich urteilsfähig fühlen durft­e, schmuddelig genug, um ein dreckstarrendes Rennvelo mit ins Innere zu nehmen.

Zurück in der Pizzeria schob ich mit sich vage an ihren Tastsinn erinnernden Fingern einige Pommes zwischen die kalten Lippen, gedanklich befand ich mich bereits unter der Dusche.

Der Wohltemperierte biss gerade ins letzte Segment seiner Pizza, blickte vergnügt über die Tischpfützen hinweg und sagte, er habe noch Bock, weiterzufahren, irgendwie sei ihm überhaupt nicht kalt.

Ich erlitt, so gut das noch ging, einen kleinen Lachanfall, bezahlte die Pommes und rollte, Lars im Schlepptau, zurück zum Hotel.

So ungefähr hatte sich mir der erste Tag dieses Rennens gezeigt, und unter der tatsächlich phantastisch warmen Dusche habe ich still für mich und doch derart laut gejubelt, dass es die Götter Griechenlands gewiss haben hören können.

Jetzt also, zwei solide Käsebrötchen im Magen, versuche ich, mich an den zweiten Tag heranzutasten, heranzutasten auch an diese erste ruppige Steigung, die doch nichts darstellt als ein kleines Aufwärmen, denn bis zum zweiten Checkpoint, irgendwo im nördlichen Slowenien, fehlen mir 284 Kilometer und 4450 Höhenmeter. Die Route dorthin hat mir Komoot vorgeschlagen, eine zuverlässige, wenn auch nicht tückenfreie App, und mit dem milchglastrüben Hirn, das ich gestern nach der Dusche noch zu aktivieren vermochte, habe ich nicht sehen können, was an dieser Route nicht gut sein soll.

Nicht besonders gut ist wahrscheinlich meine Gesamtsituation: Es ist Mitte April, überall in den Alpen wird Schnee erwartet, und ungeachtet der Tatsache, dass ich Müssigkeiten zelebrierend in den schönsten Cafés Wiens sitzen könnte, arbeite ich mich sehr freiwillig mit einem bepackten Rennrad eine schneeumwehte, jetzt noch unabsehbar lange Passstrasse hoch.

Wer während langer Stunden im Rennradsattel sitzt, hat viel Zeit, um nachzudenken. Vermeintlich jedenfalls. In der Regel ist es jedoch so: Es pustet einem das Rennradfahren derart viel asphaltfarbene Gegenwart ins Gesicht, dass für Nachdenklichkeiten kaum Raum bleibt, und die gewichtigen Fragen, die einem ansonsten am Rockzipfel hängen – bei mir zum Beispiel: Wieso tun immer alle so, als wäre eine Liebesbeziehung das Allerwichtigste? Wie kann es sein, dass der Mensch auch im 21. Jahrhundert Krieg, Hass und Zerstörung sät? Wieso kehre ich musikalisch immer wieder zurück zu Bob Dylan? Wieso ist es derart anforderungsreich, der Sohn seiner Eltern zu bleiben? Werde ich von mir enttäuscht sein, wenn ich sterbe, ohne zuvor die Relativitätstheorien Einsteins verstanden zu haben? –, diese Fragen sind zwar noch da, aber sie verlieren mit jeder Kurbelumdrehung an Gewicht, und obwohl ich keinen Schimmer habe von Neurologie, so scheint mir deutlich, dass mein Hirn spätestens nach 120 Kilometern allen nicht essenziellen Denkvorhaben das Budget streicht und meine Lage als derart übel einstuft, dass es nur noch das Grundprogramm laufen lässt, die alte, unverwüstliche Software vom Jäger und Sammler. Was nicht wenigstens indirekt mit Essen, Trinken, genügend Wärme, dem richtigen Weg und einem geschützten Ort zum Schlafen zu tun hat, verwandelt sich zu einem fernen, bald schon rein dekorativ anmutenden Problem, über das sich vielleicht später einmal, aber sicher nicht jetzt und sicher nicht kummervoll nachdenken lässt.

Trotz dieser mentalen Parallelwelt, die sich radfahrend betreten lässt, kann das Rennradfahren nur bedingt als eskapistisch gelten. Wer sich mit eigener Kraft durch Landschaften bewegt, erfährt buchstäblich, wie die Erde beschaffen ist, wie alle Elemente miteinander verbunden sind, dass die Erde eine Kugel und das Menschsein ein Witz ist. Rennradfahren ist angewandter Existenzialismus, ohne Sartre zwar, aber mit Salzkrusten auf dem Unterarm und immer wieder in einer fühlbaren Nähe zu jenem Sinn (und zu jenem Glück des Existierens), der sich allein in solchen Momenten der grossen Sinnlosigkeit aufspüren lässt.

Skilifte tauchen auf, pünktlich dazu setzt Schneefall ein, und ehe ich mich versehe, habe ich die Passhöhe erreicht. Als ich anhalten will, um mir die Jacke überzuziehen, rutscht mir um zwei, drei Zentimeter das Hinterrad weg – eine hauchdünne Schicht Eis bedeckt den Asphalt. Ich falle nicht hin, muss aber feststellen, dass meine Hinterradbremse eingefroren ist. Neuer Schneefall, Eis auf der Strasse, nur noch eine Bremse – drei nicht sonderlich euphoriefreundliche Neuigkeiten.

Ich beginne mit der Abfahrt, schalte in einen grossen Gang, Fünfzig-Dreizehn, bin froh um meine Sonnenbrille, die mir die Flocken aus den Augen hält, und um ihr Einfrieren und Ersterben zu verhindern, ziehe ich alle zwanzig Sekunden an der Vorderbremse; lieber langsam auf der Strasse als schnell in der Schlucht.

Irgendwo am Fuss des Passes, ich rolle mit 42 km/h und will den Schwung nutzen, sehe ich sechs, sieben Rennräder an der Fassade eines Gasthauses lehnen – hat Lars also doch bemerkt, dass es nicht besonders riskant ist, hin und wieder etwas zu essen?

Die Landschaft weitet sich zu einer Ebene. Ich versuche, ein gutes Tempo zu halten, auch um den von der Abfahrt unterkühlten Körper zu wärmen, drücke eine Fünfzig-Fünfzehn und lege mich runter in den Aerolenker. Noch schäme ich mich, diese aerodynamisch vorteilhafte Körperhaltung einzunehmen, weil ich glaube, es sehe aus, als wollte ich demnächst die im Zeitfahren unschlagbare Marlen Reusser überholen. Aber ich habe gelernt, dass diese Lenker in der Ultracycling-Szene normal sind und vor allem dazu dienen, den sonst während 16 oder 18 Stunden am Tag am Lenkerband festklebenden und viel Gewicht tragenden Händen eine Belastungspause zu schenken.

Während ich tiefer in die Ebene hineinpedaliere, taucht plötzlich ein schmaler Rücken vor mir auf. Ein irritierend gerader Rücken. Einerseits kann es sich angesichts der garstigen Bedingungen kaum um einen gewöhnlichen Radfahrer handeln, andererseits ist undenkbar, dass ein Rennfahrer derart aufrecht auf seinem Rad sitzt. Als ich näherkomme, erkenne ich, dass hier jemand auf einem Brompton unterwegs ist, auf einem eleganten englischen Faltrad. Zwei kinderwagenkleine Räder, verbunden durch einen genial zusammenklappbaren Rahmen, bilden ein Konstrukt, das einmal Fahrrad, einmal Rollkoffer sein kann. Als ich zu dem Fahrer aufschliesse, sehe ich über dem Gesicht jene Mütze, die wir vor dem Start des Rennens erhalten haben.

Ich grüsse und frage, ob er gut klarkomme mit der Kälte.

Strahlend sagt er: «I love being cold!»

Nur ein Brite kann so etwas in einer solchen Situation sagen, denke ich. Anders lässt sich mir der unübertreffliche Humor, der mir hier auf einem Brompton-Faltrad begegnet, nicht erklären.

Aber er hat viel Lob für sein Gefährt übrig: Gerade jetzt seien nur drei von sechs Gängen eingefroren.

Ich lerne: Wenn du glaubst, etwas total Verrücktes zu tun, wirst du jene kennenlernen, die wirklich spinnen.

Wahrscheinlich bringe ich deutlich weniger Kraft in die Pedale als er, aber Aerodynamik ist unbestechlich, und bald fällt der Bromptonière hinter mich zurück.

Wenig später verfüge ich wieder über zwei funktionierende Bremsen, es schneit nicht, es regnet nicht, ich lese im Asphalt wie in einem Buch und lasse mir die Kilometer um die Ohren wehen. Obwohl es mein Ego begrüssen würde, bald einmal den wahrscheinlich doch immer noch vor mir fahrenden Lars einzuholen, drängen mich die restlos verstrampelten Frühstücksbrötchen dazu, mich nach einem Mittagessen umzusehen. Gestern hatte ich für den Mittag vier Pellkartoffeln vorbereitet, das war perfekt: Mit dem Handschuh in die Rahmentasche greifen, eine Pellkartoffel herausfummeln und ab in den Mund. Das hat mir geholfen, für den Rest des Tages absurde Portionen von Dörrfrüchten, Riegeln und Schokolade zu tolerieren. Aber mein Pellkartoffelvorrat ist aufgebraucht, und auch wenn mein Mund es hinnimmt, weiterhin in leblose Tankstellenkalorien zu beissen, so demonstriert doch lauter und lauter eine wachsende Population meiner Magenmikroben für minimale Standards bei Salat und Gemüse.

Ein Lokal namens Kebab Istanbul in Sankt Veit an der Glan verleiht meinem Magen ein neues Leben; eine grosse Falafel, ein halber Liter Cola – und mein Blick auf die Welt hat wieder Boden unter den Reifen. Sogleich fühle ich mich besser.

Mein Navi schickt mich durch ein von Autos zerfahrenes Klagenfurt und rasch hinauf in den nächsten Anstieg; es ist der nach Slowenien hinüberführende Loiblpass. Weit und breit entdecke ich keinen Lars, keine anderen Fahrerinnen und Fahrer. Ist das Rennen vom Veranstalter wegen vereister Strassen abgesagt worden? Habe ich die Koordinaten falsch in die App getippt? Ich fühle mich fit, meine Mikroben feiern; ich will fahren, nicht zweifeln.

In der Mitte des Nachmittags, die rasante Abfahrt hinunter ins slowenische Bergland liegt längst hinter mir, gönne ich mir sonnenverwöhnte drei Minuten Pause an einem Waldrand. Ich trinke Schokoladenmilch, esse Kekse, hole mein Telefon hervor und lese die Nachricht einer Freundin, die mein Rennen online minuziös mitverfolgt: «Grossartig, du nimmst eine Route, die fast niemand nimmt! Aber Jana hat auch diesen Weg gewählt.»

Das klingt nach einem zweifelhaften Kompliment; offenbar hätte ich nach der gestrigen Dusche mein Hirn doch zu mehr Klarsicht zwingen sollen. Andererseits: Wenn Jana Kesenheimer – seit einem Dokumentarfilm über ihre eindrückliche Fahrt am Three Peaks Bike Race ein Star der Szene – auch diese Route gefahren ist, kann sie nicht so schlecht sein. Ich giesse mir die restliche Schokomilch in den Rachen, halte, als wäre es eine Zigarette, einen letzten Keks zwischen den Fingern, schwinge mich in den Sattel und bemühe mich, Kraft in die Kette zu bringen.

Der Nachmittag neigt sich zum Abend und pompöse Wolken thronen über rührend kleinen Bauernhöfen, die an grünen Hängen kleben; es ist kühl, ich nippe an der Landschaft wie an einem Glas Wein.

In einer langen, kurvenreichen Steigung habe ich mit einem Mal einen bekannten Rücken vor mir. Auch Lars war also am Vorabend im Hotel geistig nicht mehr wirklich frisch genug, die vorgeschlagene Route kritisch auf unnötige Höhenmeter abzuklopfen. Ich begrüsse ihn wie einen langjährigen Bekannten, weiss aber nicht, ob er sich nicht doch auch ärgert: Ich schlafe länger, mache dauernd Pause, hole ihn aber doch immer wieder ein. Rasch finden wir zu einem leichtfüssigen Gespräch, zur gleichen Trittfrequenz. Eine Weile fahren wir Lenker an Lenker, dann ziehe ich es vor, in eigenem Tempo einen kleinen Vorsprung herauszufahren.

Wir absolvieren ein Rennen, sind also, eng gesehen, Konkurrenten. Aber in einem Rennen dieser Art fährt jeder in erster Linie für sich allein, gegen sich allein; mit und gegen die Persönlichkeit, die er ist und nicht loswerden kann.

Manche fahren gern mit anderen am Berg, andere lieber einsam durch die Nacht. Die einen suchen das Glück, andere fahren ihm davon. Die einen wollen sich etwas beweisen, andere lassen die Beweislast des Alltags hinter sich. Für jene, die ein Rennen dieser Art gewinnen können, mag das alles anders aussehen. Aber auch für sie gibt es nureine freundschaftliche Umarmung und eine Flasche Bier zu gewinnen. Hier, am Unknown Race, kann die erste Frau, der erste Mann zudem entscheiden, welcher gemeinnützigen Organisation das mit dem Startbeitrag gesammelte Geld gespendet werden soll. Das ist aber auch schon alles, was die Schnellsten von den Langsamen unterscheidet – ausser vielleicht der Umstand, dass die Schnellsten kein Bett finden müssen, denn ein Rennen über 1000 Kilometer verlockt diese Fahrerinnen und Fahrer in der Regel zum Wahn, die ganze Angelegenheit in fünfzig, fünfundfünfzig Stunden hinter sich zu bringen, ganz ohne Schlaf.

Kaum versickert die Sonne im dicht bewaldeten Horizont, schleichen kalte Winde um die Hügel. Am Fuss eines Anstiegs steige ich vom Rad, um zu essen; Lars überholt mich. Eine halbe Stunde später fahren wir Schulter an Schulter auf der verkehrslosen Bergstrasse. Wir pedalieren geschmeidig, aber unser Sprechen stockt – wir tauschen uns schweigend aus. Wir fahren nebeneinander, Lars übernimmt die rechte Hälfte der Strasse, ich die linke, das ist Kommunikation genug.

Dieses Mal kommen wir ohne Schnee oben an; wir notieren uns die Koordinaten von Checkpoint 3; er schickt uns zurück nach Österreich. Es ist fast 23 Uhr, ein kräftiger Wind schlägt uns die Kälte um die Ohren; ich blicke zu Lars, sehe seine kleinen Augen – wir entscheiden uns, in der nächsten Kleinstadt nach einem Hotel zu suchen.

Tolmin besteht aus lichtlosen Strassen, zwei mit Lärm und Bier gefüllten Bars und drei verschlossenen Hoteltüren. Eine vierte Tür öffnet sich unvermittelt – ich blicke in das Gesicht eines Rennfahrers. Hinter ihm im Flur: fünf, sechs Rennräder. Er sagt, er lasse uns gerne rein, aber der Rezeptionist sei längst weg und insgesamt nicht besonders gastfreundlich.

Lars und ich schieben unsere Räder durch die Tür, blicken in einen langen Flur; auch er wirkt nicht besonders gastfreundlich. Aber ich bin müde und bereit, auf eine Dusche zu verzichten und hinter einer staubigen Hotelpflanze aus Kunststoff meinen Schlafsack auszurollen.

Da findet Lars eine Information zu einem Ferienhaus; zwanzig Minuten später parken wir unsere Rennräder in der Küche einer ­grosszügigen Vier-Zimmer-Wohnung. Es ist kurz vor Mitternacht, als unser Tag endlich zu einem Stillstand findet. Frisch geduscht auf dem Laken liegend, geniesse ich meine reglos ausgestreckten Beine und schliesse die Augen, aber mein Herz fährt weiter. Nicht in einen Schlaf sinke ich, sondern in ein psychedelisches Beobachten körperlicher Vorgänge; zahllose Pakete voller Kohlenhydrate werden herum transportiert, schwere Paletten mit üppigen Proteinen werden verfrachtet, an verschiedenen Ecken und Enden wird der Mineralstoffnotstand ausgerufen; kein Wunder, dass mein Herz zu keinem ruhigen Puls findet.

Ich stelle den Timer auf fünf Stunden, erwache aber nach vier; meine Erschöpfung liegt noch im Bett, während ich bereits in die Fahrradhose steige.

Die Tür zu Lars’ Zimmer steht offen, er tritt längst in die Pedale. Gerne würde ich nun frühstücken; neben mir am Küchentisch aber steht stumm ein koffeinfreies Rennrad. Ich nicke ihm zu und trage es durchs Treppenhaus runter auf die Strasse.

Ich fliege durch Nebelfetzen und Dorfschatten; ich bin wach, ich schlafe; ich blicke aus kleinwinzigen Augen, ich sehe unheimlich gut. Ist es dieser phantastisch alte Mond, der mir sein junges Licht vor das Vorderrad legt? Ist es eine massige Kuh, deren Seufzer ich höre im taunassen Gras? Falls das mein Körper ist, der hier derart motiviert Tempo macht, wird es klug sein, wach zu bleiben.

Kann es sein, dass ich Selbstgespräche führe? Der Sprecher ist jedoch nicht identisch mit dem Zuhörer, logisch also, dass sich die beiden viel zu erzählen haben. Oben auf der Strasse zum Predilpass treffe ich auf einen Rennfahrer; er heisst Gerald und scheint interessiert an einem Gespräch – ich versuche, mein Hirn zu sortieren.

Auch Gerald ist kurz vor 5 Uhr und ohne Frühstück losgefahren, doch kennt er die Gegend sehr gut und weiss, in welchem Dorf wir auf eine Bäckerei zählen dürfen: In Bovec, sagt er, kurz bevor wir nach Italien kommen.

Als ich sage, ich wolle nicht nach Italien, sondern nach Österreich, muss Gerald eine Ahnung davon erhalten, wie frisch ich geistig noch bin.

Er klärt mich auf über lokale Geografie, über die Weltkriege, die zahllosen, grimmig in den Felsnischen hockenden Bunker. Ich bin kein guter Gesprächspartner, spüre zwar die Kälte, aber nicht mehr gut, wo ich aufhöre und wo der Rest der Welt beginnt. Mindestens eine Hirnhälfte ist restlos okkupiert mit Gedanken an eine Bäckerei.

Als wir Bovec erreichen, entdecken wir alsbald ein Café, aber das Lokal bietet nichts zu essen an. Unser Cappuccino rinnt bereits in die Tassen, aber wir entschuldigen uns, rollen die 500 Meter zur Bäckerei, in welcher uns, ausgehend von einem mächtigen Holzofen, eine augenblicklich bis in die hintersten Knochen vordringende Wärme übermannt. Am liebsten würde ich mich hinlegen, mitten auf den Tresen; auch Gerald, ein Mann von der Grösse eines Schranks, sieht aus, als werde er gleich schmelzen. Um nicht den Aggregatszustand zu wechseln, lassen wir uns flink einige Croissants eintüten und eilen zurück zu unseren Cappuccini.

Eine kraftvolle Morgensonne rückt die Berge ins beste Licht; der Aufstieg zum Predilpass ist ein Geschenk. Mit Gerald philosophiere ich über das Schreiben, die Einsamkeit des Langstreckenfahrens, sich unbemerkt verschiebende Wahrnehmungen und über eine Zeile aus einem Song Bob Dylans, die mir viel Kurzweil bietet, weil sie mir partout nicht in den Sinn kommen will.

Wir erreichen die Passhöhe, stehen schwer atmend in der Sonne, neben uns liegt alter Schnee, aber die Luft ist erfüllt von einem schüchternen Frühling. Ganz dünn ist sie nun, meine Haut; ich könnte jubeln und weinen zugleich.

Gerald behauptet, ich werde schneller sein in der Abfahrt; wir verabschieden uns, ich werfe mich hinein in die Schattenseite des Bergs, lege mich in die Kurven.

Knirschend zeigt mir die Kälte ihre Zähne; ich zeige sie auch, aber mit einem Lächeln.

Eine halbe Stunde später fahre ich neben Lars; er ist frühstückslos und nicht bei Kräften. Seine rechte Achillessehne schmerzt, er versucht, sie zu schonen, und bestens informiert, wie er ist, weiss er, dass die Schnellsten noch nicht das Ziel, sondern Checkpoint 4 anfahren, der offenbar in Ungarn liegt. Lars schätzt, dass damit insgesamt knapp 1200 Kilometer zu absolvieren sind.

Ich bin froh, längst nicht mehr zu wissen, wie wenige Kilometer ich bereits gefahren bin.

Ich wünsche Lars ein baldiges Frühstück, suche mein eigenes Tempo und schreibe mir leider mit strenger Stimme vor, ohne Pause bis zu meinem Mittagessen durchzufahren, bis ins Kebab Istanbul. Sankt Veit an der Glan liegt 90 Kilometer entfernt.

Bald trage ich einen Hunger unter den Rippen, eine miese Laune hinter der Stirn; dass ich mich nicht an jene Zeile Bob Dylans erinnern kann, finde ich nun überhaupt nicht mehr poetisch, nein, es geht mir der Song insgesamt auf den Keks. Hin und wieder schaue ich entnervt an den Punkt, an welchem der hintere Reifen die Strasse berührt; ich habe keinen Platten, komme aber trotzdem nicht vom Fleck.

Dreissig Kilometer vor Sankt Veit schickt mich mein Navi auf einem schlanken Radweg über eine kleine Holzbrücke. Mitten auf der Brücke, ich misstraue meinen Augen, leuchtet glänzend rot ein Apfel. Ich fahre weiter, bin nicht bereit, mich auf Märchen einzulassen, auch wenn die Gebrüder Grimm die Sache immer wieder bestrickend charmant einfädeln. Dann bremse ich abrupt, kehre um, hebe den Apfel auf. Er ist makellos.

Unsicher halte ich Ausschau nach einer aus der Hecke hüpfenden Märchenfigur, vergeblich. Dann beisse ich hinein.

Im Kebab Istanbul werde ich empfangen wie ein Stammgast; ein winziges, wohlmeinendes Lächeln wird mir geschenkt, ich hänge es mir als Ehrenmedaille um den Hals. Um einem erschöpften Mann auszuweichen, schaue ich nicht in den Spiegel, als ich mir die Hände wasche; dass ich müde bin, weiss ich auch so.

Mit einer Falafel im Bauch kann ich endlich wieder halbwegs klar denken, kann mich um meine Route kümmern. Ich verstehe: Falls das Rennen tatsächlich noch nach Ungarn geht, und falls ich die Party von Sonntagabend nicht verpassen will, sollte ich mich vielleicht doch etwas sputen.

Ich fülle meine Wasservorräte auf, organisiere mir einige Riegel, klopfe mir, um ihnen Mut zu machen, auf die Oberschenkel und rolle los. Es ist 14 Uhr, bis zu Checkpoint 3 sind es 172 Kilometer und 1880 Höhenmeter; es wäre nicht falsch, deutlich vor Mitternacht dort anzukommen. Während ich pedaliere, mich gegen den kräftigen Wind stemme, mich von anderen überholen lasse, andere überhole, mir Pausen gönne, mir Pausen verweigere, kommt er wieder und wieder zurück zu mir, dieser eine Satz: Es wäre nicht falsch, deutlich vor Mitternacht bei Checkpoint 3 zu sein.

Nach 20 Uhr bemühe ich mich, ein Gasthaus zu buchen, mir ein Bett zu organisieren in der Nähe des Checkpoints. Drei Mal ­wähle ich eine Nummer, drei Mal ist das Gasthaus voll belegt. Frustration hängt sich an mein Rad; in zwei kurzen Steigungen hänge ich sie ab.

Irgendwann wird meine Müdigkeit von der Dunkelheit geschluckt; ich fahre ohne Mühe, ohne Zeitgefühl. Die Strasse ist steil und einsam, die Erfindung des Autos steht kurz bevor oder wurde fallengelassen, wer kann das wissen? Jedenfalls höre ich einen Kuckuck, dessen Ruf den ganzen Wald füllt, aber doch mir persönlich gilt. Ganz kollegial spreche ich mit den wenigen, an zwei Händen abzuzählenden Schneeflocken; ich sehe, es macht auch ihnen Spass, unterwegs zu sein in diesem nächtlichen Bergtal.

Es fehlt der Lars an meiner Seite, aber der Mond schickt mir seine Aufmunterung; 23 Uhr 32 zeigt mein Navi, als ich vor dem kleinen Papier von Checkpoint 3 stehe, das mir zwei Zahlen nennt. Ich schaffe es, meine Handschuhe auszuziehen und die Nummer einzutippen; zeitgleich erreicht mich der Jubel meiner Schwester, die zu Hause am Bildschirm fast rund um die Uhr meinen GPS-Daten folgt und sich wohl erst schlafen legen wird, wenn ich mich schlafen gelegt haben werde.

Eigentlich müsste ich vor Müdigkeit umkippen, aber ich schicke mich in die Abfahrt, ich singe und wackle mit der Hüfte, in weichen Graustufen sausen dunkel einige Dörfer vorbei an meinen eisigen Wangen. Gerne würde ich die Menschen aus dem Schlaf holen, sie auf die Strasse zerren, um ihnen zu zeigen, wie schön die Nacht ist.

Es ist kurz vor zwei Uhr, als ich mich anfreunde mit einem Baum. Ich liege im Biwaksack, über mir im sanften Wind raschelt das glückliche, das bescheidene Laub. Ich ziehe den Reissverschluss meines Schlafsacks hoch bis über die Schulter, versinke hinter meinen Lidern. Die Stille ist phantastisch, ein paar Sterne erzählen leuchtend von ihren Weisheiten, ich bin arg verliebt in die Gegenwart. Ich bedanke mich bei Bob Dylan, bei den Holzofenbäckern und Kuckucken, bei Lars, Gerald und dem Wohltemperierten, bei den jetzt nicht mehr fallenden Schneeflocken.

Ich merke, ich bin müde genug, in sieben Sekunden einzuschlafen, ich ahne nicht, dass über Nacht mein Telefon erfrieren wird und dass ich deswegen am folgenden Tag meine Route nicht werde planen können. Ahne nicht, dass ich erst nach 9 Uhr einen Landgasthof finden werde, in welchem mir die Wirtin zwar einen Kaffee servieren, aber behaupten wird, es gebe nichts zu essen, während sie in ein Sandwich beisst, was heftigen Futterneid in mir auslösen wird. Ahne nicht, wie viel Glück ich haben werde mit der Fähre über den Neusiedler See, wie übermütig ich vierzig Kilometer vor dem Ziel extra über den einzigen Hügel fahren werde, der sich im Südosten Wiens finden lässt – nein, von all diesen Dingen ahne ich nichts in diesen sieben Sekunden, ehe ich im Schlaf versinke, aber es streift mich kurz die Frage, weswegen ich eigentlich derartige Rennen fahre. Meine Antwort bleibt nebulös; vorerst weiss ich bloss, es wäre dumm, es nicht zu tun.

Urs Mannhart mit seinem Velo
Urs Mannhart mit seinem Velo
Quelle: Sam Dugon

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