Aus dem Leben einer Dragqueen
Hintergrund

Aus dem Leben einer Dragqueen

Vitor ist ein zurückhaltender Mann, Victoria eine extrovertierte Frau. Und doch handelt es sich bei beiden um ein und dieselbe Person.

Selbstbewusst posiert Victoria in ihrem transparenten Kleid für die Kamera. Der hautfarbene Stoff schmiegt sich eng an ihre Silhouette und die schwarzen Lackstiefel strecken ihre ohnehin schon schlanken Beine. Unschuldig spielt sie mit der blonden Haarsträhne zwischen ihren Fingern, während sie ihre Kunstpelz-Jacke lasziv von der linken Schulter rutschen lässt. Für einen Moment vergesse ich, dass unter dieser Robe und all dem kunstvollen Make-up ein Mann steckt.

Vitor Hugo Souza ist Drag-Künstler und Schöpfer der Kunstfigur Victoria Shakespears – seinem weiblichen Gegenstück, wie er sie nennt. Heute lässt er Fotograf Thomas Kunz und mich an seiner Verwandlung vom Mann zur Frau teilhaben.

Teenie-Träume

Ich schaue auf meine Füsse hinunter. Sie stecken in pinken, federgeschmückten Hausschuhen. «Hier, die könnten dir passen.» Vitor reicht auch Thomas ein Pärchen. Grösse 42. In der Luft liegt Kuchenduft. «Ich hoffe, ihr habt Hunger.» Vitor hat extra für uns gebacken. Er wirkt schüchtern. Schüchtern und gleichzeitig wahnsinnig herzlich.

Wir folgen ihm ins Wohnzimmer. Auf dem Tischchen neben dem Sofa steht ein gerahmtes Bild. «Das bin ich als kleiner Spross mit meiner Urgrossmutter und ein paar Hühnern. Damals lebten wir noch in Brasilien», erklärt Vitor uns. Mit dreizehn Jahren verlässt er seine Heimat gemeinsam mit seiner Mama. «Einfach war es nicht, meine Freunde zurückzulassen. Ich musste in der Schweiz bei null anfangen, eine neue Sprache lernen. Deshalb war ich in meinen Teenagerjahren sehr einsam. Das war hart. Im Nachhinein weiss ich, dass ich diese Zeit gebraucht habe, um mich zu entwickeln.» Halt findet er damals in der Musik diverser Pop-Künstler. «Sie gaben mir die Kraft, nie aufzugeben und ich selbst zu sein.» Und das ist Vitor heute mehr denn je. Er selbst.

Dazu verkleidet er sich in seiner Freizeit als Frau und tritt als Victoria Shakespears auf. Für seinen Bühnennamen wandelt der zierliche 25-Jährige seinen Vornamen leicht ab. Shakespeare gepaart mit etwas Britney-Flair sorgen für die nötige Portion Drama, Liebe und Schauspielerei. Aspekte, die sich auch in seiner Leidenschaft für brasilianische Telenovelas wiederfinden lassen. «Mein Drag-Ich verkörpert eine Pop-Prinzessin mit Latina-Touch», erklärt er.

«In der Schule hatten die meisten Jungs einen Lieblingssuperhelden. Ich hingegen eine Schwäche für Popdiven wie Britney Spears und Mariah Carey. Ich wollte sein wie sie. Mit dem Charakter Victoria Shakespears kann ich diese Fantasie endlich ausleben.»

Das Ausleben von Fantasien scheint nicht jedem vergönnt zu sein. Vor zwei Monaten gibt Vitor in der «Bar Rouge» in Basel sein Performance-Debüt. «Seither bekomme ich über Instagram immer wieder Nachrichten von Männern, die mir erzählen, wie gerne sie selbst als Dragqueen auftreten würden. Aus Angst vor der Reaktion ihrer Familien und Freunde tun sie es jedoch nicht.» Ein Problem, das Vitor nicht hat.

«Mein soziales Umfeld unterstützt mich. Besonders mein Verlobter. Er arbeitet in London fürs Theater, verkleidete Menschen gehören zu seinem Alltag.»

Auch öffentliche Hasskommentare finden via Social Media ihren Weg zu Vitor. «Diese Menschen haben eine Vorstellung davon, wie ich als Mann zu sein habe. Paradox daran ist, dass dieselben Personen mich auch privat anschreiben und Nacktbilder von sich schicken. Männer mit unterdrückter Wut aus Kulturen, in denen es für meinen Lebensstil keinen Platz hat. Gegen aussen hin spielen sie sich als Moralapostel auf, insgeheim möchten sie sich aber auch ausleben.» Vitor betont, dass er bisher dennoch überwiegend positive Erfahrungen gemacht hat und auf viel Zuspruch stösst. «Leider wird in den Medien meistens über die negativen Vorfälle berichtet.»

Auf dem Weg zu Victoria

Für negative Vibes ist in seinem rosaroten Einzimmer-Reich ohnehin kein Platz. Eine weit geöffnete Doppeltüre in der Stube gibt den Blick auf sein Schlafzimmer und die gewaltige Spiegelfront darin frei. Hier, an seinem Schminktisch, findet auch Vitors Transformation statt. Auf dem Boden neben seinem Bett sitzt ein übergrosser Teddybär. Er wirkt, als wolle er gemeinsam mit uns dabei zusehen, wie aus Vitor Victoria wird.

Vor einer Show weiss Vitor ganz genau, wie er sich schminken und welches seiner Outfits er auf der Bühne präsentieren möchte. Heute experimentiert er. Seelenruhig fährt er mit einem Pritt-Klebestift über seine Augenbrauen. Immer und immer wieder. Dann kämmt er die dunklen, klebrigen Härchen mit einem Bürstchen sorgfältig nach oben, bevor er sie abpudert. «Brow Blocking» nennt sich das. «So lassen sich meine Brauen später einfacher überschminken, wodurch sie optisch verschwinden.» Das erlaubt es ihm, die Augenbrauen in einer anderen Form sowie Farbe aufzumalen und neu zu platzieren.

Not a boy, not yet a woman

«Schminken entspannt mich. Es ist eine Art Therapie. Deshalb nehme ich mir dafür gerne viel Zeit», sagt er mit spürbarer Begeisterung. Für sein Augen-Make-up benötigt er am längsten. Mit unterschiedlichen Lila-Nuancen bringt er Pinselstrich um Pinselstrich mehr Intensität in seinen Blick. Durch den weissen Kajal wirken seine blaugrünen Augen grösser. Auf das erste falsche Wimpern-Set, das er anklebt, folgt ein weiteres. Jeder Handgriff sitzt. Um uns herum wird es chaotischer. Bunte Lidschattenpaletten und gebrauchte Pinsel stapeln sich auf seinem Bett. Vitor wiederum wirkt fokussierter.

«Schon als Kind habe ich mich im Badezimmer eingeschlossen und mit den Schminksachen meiner Mutter gespielt.» Aus Spass wird Leidenschaft. Deshalb besucht er nach seiner Ausbildung zum Hotelfachmann eine Make-up-Schule und macht sein Hobby zum Beruf. Fünf Jahre lang arbeitet er als Make-up Artist und Counter Manager für einen grossen Make-up Brand, bis er sich dazu entschliesst, im Kosmetikstudio seiner Mutter als Lash und Brow Stylist ein neues Kapitel aufzuschlagen. Während er mir von seinem Werdegang erzählt, merke ich, dass sich etwas verändert hat. Ganz fassen kann ich das Gefühl jedoch nicht – Vitor hingegen schon: «Sind meine Augen erst einmal geschminkt, sehe ich bereits mehr von Victoria im Spiegel als von Vitor.»

Der Vorhang fällt

«Wenn du dich auf der Bühne verausgabst und von Scheinwerfern angestrahlt wirst, muss dein Werk halten», erklärt er mir, während er die schweissresistente Theaterschminke in seine Haut einarbeitet. Mit dunkler Creme-Farbe und hellem Puder verleiht er seinem Gesicht Schicht für Schicht mehr Dimension und schafft neue Konturen. Seine weichen Gesichtszüge wirken dadurch noch femininer. «Hier liegt der Unterschied zum gewöhnlichen Make-up. Beim Drag darf es von allem mehr sein. Die Haut muss von Nahem nicht wie Haut aussehen. Wichtig ist, dass der Look auf die Ferne eine Wirkung erzielt.»

Auf der Bühne singt Vitor Playback, auch «Lip Sync» genannt. Eine Performance-Kunst, die einen festen Platz in der Drag-Kultur hat. «Natürlich gibt es auch Künstler, die live singen können oder jene, die Comedy machen. Erlaubt ist, was das Publikum unterhält.» Vorbilder hat Vitor mehrere: «In meiner Kindheit – ich war etwa fünf – hat mich besonders die brasilianische Comedy Dragqueen Vera Verao geprägt. Sie war fast zwei Meter gross, trug ganz untypisch keine Perücke und war sehr authentisch. Das gefiel mir. Damals wusste ich jedoch noch nicht, was Drag ist. Ich fand sie einfach witzig und freute mich darauf, sie jeden Samstagnachmittag im Fernseher zu sehen.» Dennoch vergleicht sich Vitor nicht mit seinen Idolen.

«Im Drag geht es darum, dass jede Queen einzigartig in Style, Talent und Persönlichkeit ist. Sich mit anderen zu messen, macht keinen Sinn.»

Der früher viel verwendete Begriff «Travestie» ist nicht mehr zeitgemäss, da er für Transmenschen eine negative Konnotation birgt, erklärt mir Vitor. Deshalb unterscheidet man heute spezifisch zwischen Drag und Transgender. «Eine Dragqueen ist ein Mann, der sich temporär als Frau verkleidet und mittels Cross Dressing zwischen den Geschlechtern switcht. Transpersonen hingegen wurde bei der Geburt das falsche Geschlecht zugewiesen und wünschen sich eine Geschlechtsangleichung.»

Während Vitor seine Perücke anbringt, wird er ganz ruhig. Still und völlig in sich gekehrt drückt er den falschen Haaransatz mit dem spitzen Ende eines Kamms an seine Haut, um ihn festzukleben. Bei genauerem Betrachten sind in der Perücke – ganz nach Britney Manier – Schweissstellen von Extensions zu sehen. Thomas und ich nutzen die Zeit und werfen einen Blick in Vitors Schrank.

In einer schwarzen Sporttasche stossen wir auf einen Stapel Magazine. Alles Hefte, die von Britney geziert werden. Eine andere Tasche ist bis zum Rand mit Barbies gefüllt. Auch zwei kleine Spielzeug-Ankleideschränke finden wir. «Als Kind durfte ich nicht mit Barbies spielen. Mein Vater hat es mir verboten. Deshalb habe ich damals heimlich mit den Puppen meiner Schwester gespielt. Nach meinem Outing mit 18 habe ich mir dann meine erste Barbie gekauft», erzählt er uns später. An der Innenseite seines Einbauschranks klebt ein Poster von Mariah Carey. Das Visual stammt aus ihrer Zusammenarbeit mit MAC Cosmetics. «Die Kollektion kam im Dezember 2016 raus.» Im Verlauf des Tages beeindruckt mich Vitor immer wieder damit, dass er Monat und Jahr, in denen diverse Ereignisse stattgefunden haben, aus dem Stegreif nennen kann.

Mittlerweile sitzt die Perücke. Vitor ist abwesend. Victoria hat seinen Platz eingenommen.

Kennen wir uns?

«Wer bist du?» Diese Frage stellt Victoria lachend ihrem Spiegelbild. «Ich habe das Gefühl, dass ich die Person im Spiegel überhaupt nicht kenne», fügt sie etwas ernster hinzu. Vitor hat seine zurückhaltende Art gegen Victorias selbstbewusste Ausstrahlung getauscht. Ihre Mimik ist kontrolliert, die Haltung plötzlich gerade und ihre Stimme höher. Und noch etwas hat sich verändert: mein Sprachgebrauch. Ohne zu überlegen, verwende ich weibliche Adjektiv-Formen im Zusammenhang mit Victoria.

Fehlt nur noch das Outfit. Dafür muss Victoria erst ihren Körper in Form bringen. Aus dem Schrank zaubert sie zwei enge, gepolsterte Boxershorts hervor. Damit bringt sie Fülle in ihr Gesäss. Darüber zieht sie drei hautfarbene Strumpfhosen, um die Push-up-Höschen zu kaschieren. Zum Schluss folgt noch eine letzte, mit Glitzersteinchen gespickte Netzstrumpfhose. «Es gibt auch Paddings für die Hüften. Das sind Polster, die man unter der Kleidung trägt. Sie mimen eine kurvige Taille. Ich persönlich mag aber den androgynen Look.» Ihre Nippel bedeckt sie mit Glitzer, weil ihr erstes Outfit transparent ist und sie keine Lust hat, einen BH darunter zu tragen.

Aber was passiert eigentlich mit dem «Männlichsten», das ein Mann zu bieten hat? Anhand von zwei runden Puderdöschen und einem Pinsel demonstriert uns Victoria, wie sie für ihre Shows mithilfe eines Haargummis und Klebeband ihr Glied aus dem Weg räumt. «Tucking» nennt sich das. Zu Deutsch: Verstauen. Das ist insbesondere dann nötig, wenn sie enge Bodysuits trägt. «Wichtig ist, dass man gut rasiert ist, bevor man sein bestes Stück nach hinten wegklebt. Sonst endet das Abziehen des Klebebands in einem unfreiwilligen Waxing. Es gibt auch extra enge Unterwäsche, die einem das Abkleben ersparen. Die kann ich aber nur tragen, wenn mein Outfit nicht allzu knapp ausfällt und ich während meiner Performance die Beine nicht spreize.» Victoria ist Thomas' schmerzverzerrtes Gesicht nicht entgangen und spricht aus, was wir beide schon vermutet haben:

«Drag ist nicht bequem. Besonders unangenehm ist das Hinsetzen, da praktisch dein gesamter Körper Druck auf deine Kronjuwelen ausübt.»

Mittlerweile sind etwas mehr als fünf Stunden vergangen. In ihrer Schuhtasche sucht sie nach den passenden Heels. «Too basic», so ihr Urteil, nachdem sie sich kurz in hautfarbenen Calvin Kleins im Spiegel betrachtet hat. Sie entscheidet sich für schwarze Lack-Overknees. Schuhe, in denen ich keinen Schritt gehen könnte. Victoria hingegen tänzelt in ihnen souverän über den Parkettboden. Dann fällt ihr ein, dass sie etwas vergessen hat und rennt weg. «Ohne Parfüm geht nichts. Es komplettiert meine Transformation», ruft sie uns aus dem Badezimmer zu.

Showtime

Victoria schüchtert mich ein. Dank den Plateau-Schuhen überragt sie mich um gute 30 Zentimeter. Sie steht aufrecht, wirkt tough und distanziert. Fast schon unnahbar. Während Thomas Fotos von ihr schiesst, sitze ich auf dem Sofa und schaue gebannt dabei zu, wie sie aufblüht. Ihre Posen kommen wie aus der Pistole geschossen. Pausen braucht Victoria keine. Auch an kreativen Ideen mangelt es ihr nicht. Im einen Moment albert sie mit ihrem Teddy herum, im nächsten knabbert sie provokativ an einem Stück Schokolade.

Dann Outfit- und Perückenwechsel: Mit dem roten Abendkleid, dem weissen Kunstfell über den Schultern, der wallenden Mähne und den vielen Klunkern erinnert sie mich an eine jüngere, frischere Mariah Carey. Nicht zu übersehen ist ihr Dekolleté. Sie hat es sich kurzerhand aufgemalt und gekonnt schattiert. Auf ein paar Meter entfernt wirkt es täuschend echt. Es folgt Outiftwechsel Nummer zwei. Diesmal wirft sich Victoria in ein freizügiges Glitzer-Kleidchen. Wieder folgt Pose auf Pose. Je länger das Shooting dauert, desto mehr Energie scheint Victoria zu haben. Als wir die Bilder im Kasten haben, läuft sie zur Höchstform auf. Sie singt, tanzt zur Teen-Pop-Musik im Hintergrund, performt und lacht, während wir unsere Sachen packen.

Victoria besteht darauf, uns noch an den Bahnhof zu begleiten. Das gibt Thomas und mir die Gelegenheit, zu beobachten, wie die Leute draussen auf sie reagieren. Dafür schlüpft sie in eine strassbesetzte Showhose, die sie selbst genäht hat und kombiniert sie mit einem Bling-Bling-BH sowie einer Jeansjacke. Obwohl ich bereits Stunden mit Victoria verbracht habe, kann ich meine Augen nicht von ihr nehmen. Den Menschen auf der Strasse ergeht es gleich. Ihre Blicke heften sich an die weibliche Erscheinung an unserer Seite. Und während sich in den Gesichtern der Passanten Neugier spiegelt, macht sich in Victorias ein zufriedenes Lächeln breit.

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Als Disney-Fan trage ich nonstop die rosarote Brille, verehre Serien aus den 90ern und zähle Meerjungfrauen zu meiner Religion. Wenn ich mal nicht gerade im Glitzerregen tanze, findet man mich auf Pyjama-Partys oder an meinem Schminktisch. PS: Mit Speck fängt man nicht nur Mäuse, sondern auch mich. 


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