Cowboy Bebop: 10 Minuten entscheiden über Liebe oder Hass
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Cowboy Bebop: 10 Minuten entscheiden über Liebe oder Hass

Netflix' «Cowboy Bebop» ist ein Experiment. Die Serie verlangt von dir als Zuschauer viel, kann dir aber viel geben. Sie steht solide auf eigenen Beinen. Aber etwas Wichtiges ist bei der Anime-Adaption verloren gegangen.

Eine Gang raubt ein Casino aus. Der Lift fährt eine Etage tiefer. Der Gangster flucht über das System. Der Lift fährt eine Etage tiefer. Der Gangster hat eine Geisel. Der Lift fährt eine Etage tiefer. Der Gangster checkt, ob das Geld schon überwiesen ist. Der Lift ist da.

Die Türen öffnen sich.

Heraus tritt John Cho in der Rolle des Spike Spiegel.

John Cho als Spike Spiegel
John Cho als Spike Spiegel

Der Gangster brüllt Spike an. Der Held bleibt cool. Selbst als der Gangster die Waffe auf ihn richtet, sagt der Held der neuen Netflix-Serie «Cowboy Bebop» nur: «Ich will eigentlich nur etwas spielen».

Dann folgen mehrere Minuten Kampfszene.

Dann das Intro von Komponistin Yoko Kanno.

Wenn dir «Cowboy Bebop» bis hierhin nicht gefallen hat, dann wird der Rest der Serie dir auch nicht zusagen. Daher rührt wohl auch die meiste Kritik am Herzensprojekt Chos. Er hat den Stoff von Shinichiro Watanabe aufgegriffen und neu interpretiert. Denn «Cowboy Bebop» hat in den späten 1990ern als Anime-Serie Kultstatus erreicht und massgeblich dazu beigetragen, dass Anime im cartoon-kulturlosen deutschen Sprachraum nicht nur als «Das Zeug, das am Nachmittag auf RTL2 läuft. Weisst du, für die Kinder ...» wahrgenommen wird.

Es fehlt die Langsamkeit

Nicht nur in der Schweiz, Deutschland und in Österreich ist der Anime Kult. In den USA gehört «Cowboy Bebop» zu den Serien, die jungen Animefans als Pflichtstoff vorgesetzt wird. Diese setzen «Cowboy Bebop» dann neuen Jungen vor, die die Serie dann quasi weitervererben.

John Cho geht einen Schritt weiter. Er wagt es nicht nur, Spike und Co. in die reale Welt zu bringen, er interpretiert den Stoff komplett neu. Das zeigt ein Blick auf einige Szenen der ersten Folge vor dem Intro des Anime.

Rosen im Regen. Spike zieht an einer Zigarette. Standbilder. Sanfte Musik im Hintergrund. Kein Wort Dialog, kaum Bewegung. Nur der Regen, der auf Rosen in einer Pfütze prasselt.

Dann «Tank!» von Yoko Kanno.

Es scheint so, als ob die Live-Action-Serie vergessen hat, dass der Anime «Cowboy Bebop» zwar generell als Science-Fiction mit Action bezeichnet werden kann, aber im Wesentlichen von der Ruhe lebt. Budgetsparende Weitwinkelzeichnungen mit wenig Animation. Panning Shots mit Stimmen aus dem Off. Langgezogene Momentaufnahmen. Manchmal Passanten, die in einem Café sitzen und irgendwelche trivialen Themen besprechen. Sogar Verfolgungsjagden mit Raumschiffen wirken entspannt und haben eine Langsamkeit.

Dazwischen Schiessereien, Schlägereien und Schwertkämpfe.

Alles macht Lärm. Hier würdest du ein lautes «Whooosh» hören.
Alles macht Lärm. Hier würdest du ein lautes «Whooosh» hören.

Die Live-Action-Serie dreht das um. Vorbei ist es mit der Ruhe. Alles ist auf Lärm, Action, Glimmer und Musik gedreht. Und das ist etwas, auf das du dich als Zuschauer einlassen musst. Es ist ungewohnt, wirkt zu laut und zu schrill. Die Soundeffekte, wenn Spikes Bein während einem High Kick durch die Luft fliegt, wirken im Anime willkommen und logisch, in der Live-Action-Serie sind sie ein Stilelement, das viel Vertrauen der Zuschauer erfordert. Lustigerweise ist das in den ersten paar Szenen des Trailers ziemlich gut gelungen, bevor auch da der Lärm losgeht.

Da kann John Cho als Spike Spiegel noch so einen tollen Job leisten und zumindest die flapsige Art Spikes noch so gut spielen die Welt um ihn herum existiert höchstens als Fensterdekoration.

Genug Vergleich: Wie ist die neue Serie so?

Die 2021er-Serie muss aber auf eigenen Beinen stehen können. Im Idealfall soll sie eine Generation begeistern, genau wie das die Anime-Serie getan hat. Und da wagt «Cowboy Bebop» eine Gratwanderung, die mal besser, mal schlechter gelingt.

Besser und visuell stärker könnte die Crew der Bebop nicht aussehen.
Besser und visuell stärker könnte die Crew der Bebop nicht aussehen.

Die Rosen kommen gleich nach dem Intro, die Serie versucht die Langsamkeit nachzuahmen. Und es ist genau der Aspekt des Nachmachens plus der viele Lärm der Serie – irgendwas piept, schnarrt, scheppert oder redet immer –, der die Ruhe nicht so recht ruhig wirken lassen will.

Die Sets sehen fantastisch aus. Das Raumschiff mit dem Namen Bepop, auf dem unsere Serienhelden leben, sieht abgenutzt, durchlebt und heimelig aus. Ein bequemes Ledersofa auf einem abgewetzten Teppich auf kaltem Metallboden. Der Planet, auf dem die Crew der «Bebop» den Schmuggler Asimov jagt, ist eine eindeutige Anspielung auf Kuba, eben mit ein paar Raumschiffen. Auch das hat Charme.

Das Set der Bebop ist fantastisch, wirkt sowohl belebt wie auch weltraumartig futuristisch.
Das Set der Bebop ist fantastisch, wirkt sowohl belebt wie auch weltraumartig futuristisch.

Der Plot, der ziemlich genau derselbe wie in der Anime-Serie ist, zündet aber nicht so recht. Die Realserie trifft alle Noten, kann die visuellen Inspirationen nicht verneinen. Die Special Effects sind schön gemacht und wagen sich in recht abenteuerliches Territorium vor, wie zum Beispiel mit der rotgetünchten Egoperspektive. Trotzdem fühlt sich das alles abgekupfert und halbüberzeugend neuinterpretiert ein.

Die Probleme liegen im Drehbuch, der Regie und im Schnitt. Wenn die Schauspieler nicht zwingend an menschliche Performance gebunden sind, dann dürfen sie nicht einfach machen, was sie wollen. Das wirkt befremdlich. Wenn jede Figur gleich befremdlich wäre, dann würde das funktionieren. Doch jede Figur in der ersten Folge der Realserie hat eine andere Befremdlichkeit, seien das unnatürliche Bewegungen, eine merkwürdige Art zu sprechen oder die langen Pausen die an die verkorkste Synchro von «Squid Game» erinnern. Als Zuschauer kannst du dich so nirgends festhalten. Das hätte eine Regie ausgleichen müssen.

Dann der Schnitt: Die Dialoge sind schlagfertig und wären lustig, wenn da nicht zwischen den einzelnen Dialogzeilen eine Sekunde Ruhe wäre. Warum hat da niemand vorher geschnitten? So entsteht eine Art unangenehme Pause, vergleichbar mit der, wenn du eine Comedyserie ohne Gelächter aus dem Off siehst. Oder soll die Sekunde etwa die Langsamkeit sein?

Ich vermisse die emotionale Bindung zu auch nur einer einzigen Figur, denn sobald die Dialoge aus Comedy-Serien überstanden sind, kommt die künstliche Ruhe mit der lauten Geräuschkulisse zurück. Auch hier hätte eine Regie oder ein Schnitt helfen können. Es kann nicht sein, dass der Comedy-Regisseur in die Kaffeepause geht, und die Kunststudentin-Regisseurin übernimmt und nachher in der Post die gesamte Sound-Bibliothek des Studios gleichzeitig verwendet werden muss.

Das stört dann am Ende der ersten Folge, wo Spike im Raumschiff seiner Beute nachjagt. Im Anime ist da Stille. Bei Netflix rumpelt alles. Und selbst wenn das Rumpeln aufhört, ist da dann ein Ambient Jazz Track. Warum?

Ein interessantes Experiment, das vielleicht gelungen ist

Nach der ersten Folge ist es Zeit, ein Fazit zu ziehen, denn für mehr reicht die Zeit bis Redaktionsschluss nicht. Es ist einfach, unendlich viele Kritikpunkte zu finden. Dann stünde hier ein Text über «Cowboy Bebop» der dich die Serie eher nicht anschauen lässt. Der Kritik gegenüber steht der visuell eindeutige Stil der Serie. Keine andere Serie sieht so aus wie «Cowboy Bebop».

So richtig gern mag ich «Cowboy Bebop» auf Netflix nicht. Aber hassen kann ich die Serie auch nicht. Sie ist visuell interessant, hat die Stories des Anime übernommen, neu zusammengemischt und der ganzen Welt eine eigene Identität aufgedrückt. Sie versinkt zwar im Lärm, trifft aber die Noten beim Soundtrack. Sie versucht, die Ruhe und die Langsamkeit zu finden, schafft das aber nicht.

Daher: Gib dir die ersten zehn Minuten vor dem Intro eine Chance. Entscheide dich da, ob du dich auf das Experiment einlassen willst. Ich bereue meine 50 Minuten «Cowboy Bebop» nicht, bin mir aber nicht sicher, ob ich die Serie mag.

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Journalist. Autor. Hacker. Ich bin Geschichtenerzähler und suche Grenzen, Geheimnisse und Tabus. Ich dokumentiere die Welt, schwarz auf weiss. Nicht, weil ich kann, sondern weil ich nicht anders kann.


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