Das uneingeschränkte Chaos in meinem Bücherregal
Hintergrund

Das uneingeschränkte Chaos in meinem Bücherregal

Oliver Fischer
26.11.2021

Lesen ist eine der schönsten Nebensachen der Welt. Finde ich. Meine Bücherregale sind darum vollgestopft mit Werken von Alighieri bis Zola. Ich gebe dir einen Einblick in mein literarisches Chaos.

Mir dröhnt der Schädel und in den Ohren pfeift’s. Ich sitze jetzt seit einer halben Stunde auf meinem Vintage-Ledersessel vor dem Bücherregal und starre das uneingeschränkte Chaos der Literatur darin an. Zwischen meinen Trommelfellen liefern sich Autoren des deutschen Literatur-Kanons mit Romanfiguren zeitgenössischer Bestseller-Autor:innen einen komplett entgleisten Wutbürger-Streit um meine Aufmerksamkeit.

«Wie du’s mit der Religion hast, will ich wissen», schreit Goethe von unten rechts. Die Gretchenfrage, mal wieder. «Miami, steig endlich runter von mir, du Punk», brüllt es von links – ich glaube es ist Charles Bukowski, der mal wieder die Contenance verliert. «Ich weigere mich kategorisch gegen diesen Imperativ», schreit Kant im Akkord von unten links. «Spass! Du willst doch nur unendlichen Spass», dröhnt es von David Foster Wallace, dass die Bücherreihen zittern. «Redest du mit mir, du Schmalspur-Atréju», pöbelt Michael Ende sofort zurück.

Und ich? «Ich bin Atheist», denke ich und «ich bin aber ein Bastian», und «verlier nicht ständig die Kantenance, Immanuel».

Wie ist es nur so weit gekommen? Nun, ich habe gerade meine aktuelle Bettlektüre ausgelesen und brauche ein neues Buch für meinen Nachttisch.

Ich habe (k)eine vage Vorstellung, welches Buch ich mir einverleiben möchte. Anders gesagt, ich suche im Regal nicht ein bestimmtes Buch oder eine:n bestimmte:n Autor:in. So geht’s mir meistens, wenn ich mich von einer Geschichte und ihren Held:innen verabschiedet habe. Oben links beginne ich also das Regal zu lesen, wie ein Buch.

Nicht alphabetisch nach Autor, erst recht nicht nach Buchtitel und auch nicht chronologisch nach Alter des Werks ist das Regal geordnet. Colson Whiteheads «Underground Railroad» liegt quer über der «Unendlichen Geschichte», «Krieg und Frieden», der «Blechtrommel» und dem «Medicus». In zufälliger Reihenfolge streift mein Blick über weitere Russen, Franzosen und Briten. Also Autor:innen. Kein Buchtitel packt mich. Weder solche, die da seit Jahren unberührt stehen, noch solche, die ich fast jedes Jahr einmal lese.

«Mondenkind. Ich komme zu dir, Mondenkind», ruft plötzlich Bastian Balthasar Bux aus den Buchdeckeln der «Unendlichen Geschichte».
«Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist …» – Uiuiui, der «Kleine Prinz» mit seiner Binsenweisheit. Was kommt als Nächstes, Paulo Coelho? Aber nein, Coelho habe ich weder gelesen, noch steht er im Regal.
«Hey. Du! Nimm uns. Uns musst du gesehen haben», raunt, flüstert, schreit und singt mir ein Stimmengewirr entgegen. Mein Auge bleibt an «1001 Filme, die du gesehen haben musst, bevor du stirbst» hängen. Nein, das ist eher WC-Lektüre.

So wie jetzt sitze ich jedes Jahr ein paar Mal vor unserem Bücherregal. Meine Frau ist Linguistin, der deutsche Literatur-Kanon steht dank ihr von Berufs wegen im Regal – manches auch doppelt, weil ich selbst auch den einen oder anderen Klassiker seit Jahren mit mir mitzügle. Beide kaufen wir zudem regelmässig neue Bücher, und so wächst mein Lese-Soll schneller an, als ich es je werde abbauen können. Aber ich mag das. Dass das Regal längst überquillt und sich Bücher auf Bücherreihen stapeln und dieses Vor-dem-Regal-Sitzen und Suchen gleichermassen.

«Ilsebill salzte nach», höre ich da Günter Grass irgendwo aus der oberen mittleren Reihe sagen. «Ein Ring, sie zu knechten, sie alle zu finden, ins Dunkel zu treiben und ewig zu binden», raunt es aus einer anderen Richtung. Ziemlich laut dröhnt gleichzeitig Ernest Hemingway «Der Fisch ist mein Freund. Aber ich muss ihn töten.» «Ilsebill salzte nach», lässt sich Grass, schon sehr viel lauter vernehmen. «Ich will, dass du mich so fest schlägst, wie du nur kannst», schreit mich Tyler Durden an. «Illsebill salzte nach», brüllt der Grass inzwischen pausenlos. «Deine Ilsebill soll ihr verdammtes Salz wegstellen und Ernests Fisch in Ruhe lassen», flucht plötzlich Gordon Ramsay irgendwoher.

«Was macht der denn hier? Die Kochbücher gehören doch in ein anderes Regal», denke ich.

Mir dröhnt der Schädel und in den Ohren pfeift’s.
Ich mag das Chaos in meinem Bücherregal, weil es mich inspiriert. Weil ich darin zwar nichts auf Anhieb finde, es mich aber immer wieder auf Autoren und Werke stossen lässt, die ich längst vergessen hatte. Weil ich so Geschichten entdecke, die ich nie gezielt gesucht hätte. Bloss: «Wie soll ich mich jetzt gerade für meine nächste Lektüre entscheiden bei dem Lärm in meinem Kopf», frage ich mich.

«Mit Glück» – eine tiefe melodiöse Stimme wie ein Glockenspiel übertönt, obwohl selbst ganz leise, das ganze Geschrei. Fuchur? «Ja, Fuchur. Ich bin doch bei dir. Du findest deinen Weg. Mit Glück.» Wo steht denn die «Unendliche Geschichte» schon wieder, überlege ich und suche. Da bleibt mein Auge unvermittelt auf Walter Moers’ «Die 13 ½ Leben des Käpt’n Blaubär» hängen – und sofort herrscht Stille.

Chaotisch, chronologisch, alphabetisch; nach Farben, nach Grösse, nach Stimmung; geografisch, autobiografisch, thematisch. Jede:r hat eigene Vorstellungen, wie ein Bücherregal eingeräumt zu sein hat. Wir Redaktor:innen von Digitec Galaxus zeigen dir unsere Regale. Als Nächstes: Natalie Hemengül.

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Weltenbummler, Wandersportler, Wok-Weltmeister (nicht im Eiskanal), Wortjongleur und Foto-Enthusiast.


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