Fussball und ich – wie diese Liebe erkaltet ist
Meinung

Fussball und ich – wie diese Liebe erkaltet ist

Martin Jungfer
15.11.2022

Bei der Fussball-WM in Katar rollt jetzt wieder der Ball. Und der Rubel – oder besser Riyal. Im Wüstenstaat geht es um Ruhm und Ehre. Und um viel Geld. Mich lässt das Ganze kalt.

Frühjahr 1990 in Deutschland. Ich bin elf Jahre alt und esse zu viel Hanuta. Rudi Völler ist schuld. Denn kurz vor Beginn der WM in Italien muss ich noch mein Sammelalbum von Ferrero voll bekommen. Es gibt dort noch diese eine Leerstelle im Sturm. Mir fehlt ein Klebebild von 30. Die stecken in jedem Duplo-Riegel und jeder Hanuta-Packung für 30 Pfennig. Eine Süssigkeit plus Sticker zu diesem Preis – das erscheint mir als Bub eine bessere Investition als der Panini-Wahn.

Bei der WM 1990 sammelte ich durch exzessiven Verzehr von Duplo und Hanuta die Bilder der späteren Weltmeister.
Bei der WM 1990 sammelte ich durch exzessiven Verzehr von Duplo und Hanuta die Bilder der späteren Weltmeister.

Heute geben Kinder, respektive deren Eltern hunderte Franken und Euro für Sticker aus, bis ein Panini-Album voll ist. Die Kids laufen mit der gleichen Frisur herum wie Cristiano Ronaldo, sie bejubeln ein Tor auf dem Bolzplatz gleich wie Kilian Mbappe. Ihre Liebe gehört PSG, Real Madrid oder Manchester City.

Das wäre mir damals nie in den Sinn gekommen. Früher … da war Fussball noch echt. Als wir in der Redaktion kürzlich über die Fussball-WM diskutierten, habe ich in der folgenden Nacht von Fussball geträumt. Von dem Fussball, der viele Jahre lang mein Leben geprägt hat. Es war ernüchternd, denn er und ich, wir haben uns auseinander gelebt. Liegt es an mir? Oder am Fussball? Ein persönlicher Erklärungsversuch in 5 Teilen.

1. Der Bolzplatz sozialisiert mich

Bei uns auf dem Dorf in Franken gab es in den 1980er-Jahren nicht viel: Kirche, Feuerwehr, Fussball. Meine Eltern schickten mich zum örtlichen Sportclub. Irgendwann mit acht Jahren schnürte ich dort meine Fussballschuhe. Training auf dem Sandplatz, die Liga-Spiele auf dem Rasen – wenn der Platzwart gute Laune hatte. Wir gewannen manchmal, fingen aber auch einmal zwölf Gegentore in einem Spiel und machten trotzdem weiter. Unser Trainer fand, dass ich für das Team am wertvollsten auf Positionen war, bei der ich das Spiel des Gegners stören oder sogar zerstören könnte.

In den 80er-Jahren musste es noch kein Trikot sein, auf dem der Name eines Stars steht. Ich war glücklich mit meinem Shirt, auf dem einfach nur «Tor» zu lesen war.
In den 80er-Jahren musste es noch kein Trikot sein, auf dem der Name eines Stars steht. Ich war glücklich mit meinem Shirt, auf dem einfach nur «Tor» zu lesen war.

Durch Trainingsfleiss konnte ich im Lauf der Jahre teilweise das fehlende Talent kompensieren. Mit 15 durfte ich im Team der nächsthöheren Altersklasse aushelfen. Deren Kapitän pushte mich zur vielleicht besten Leistung meiner Fussballlaufbahn. Wir schlugen bei Regen und tiefem Boden irgendeinen haushohen Favoriten.

Mannschaftsfoto aus der Junioren-Zeit: Vierter von rechts bin ich. Man hätte mir aufgrund der Grösse Kopfballstärke zutrauen können. War aber nicht so.
Mannschaftsfoto aus der Junioren-Zeit: Vierter von rechts bin ich. Man hätte mir aufgrund der Grösse Kopfballstärke zutrauen können. War aber nicht so.

Meine Liebe zum Fussball war nie grösser. An den Spieltagen der Fussball-Bundesliga wusch ich freiwillig am Samstagnachmittag das Familienauto, weil ich da die Bundesliga-Konferenz im Radio laufen lassen konnte. Mein Lieblingsverein, der 1. FC Nürnberg, spielte wie so oft gegen den Abstieg, auch Nationaltorwart Andreas Köpke und das Kreativduo aus Zaubermaus Zarate und Zauberfuss Alain Sutter änderten daran nicht viel. Der FC Bayern München wurde Meister, aber in den 1990ern gewannen zwischenzeitlich auch andere Vereine einmal Titel. Die «Champions League» war in den Köpfen der Fans noch immer der «Europapokal der Landesmeister».

2. Als Schiedsrichter erlebe ich die Seele des Spiels

Mit 18 Jahren wechselte ich in den Herren-Bereich. Der Trainer war ein im gesamten Fussballkreis gefürchteter Schleifer. Er hetzte uns Hügel hinauf, liess uns endlos Platzrunden laufen und die Kameraden huckepack herumtragen. Ich war nie in meinem Leben so fit. In ein paar Vorbereitungsspielen wurde ich für die Erste Mannschaft nominiert. Am Ende reichte es nicht – Versetzung in die zweite Garde, bei der eher das Bier nach dem Schlusspfiff wichtig war.

In dieser Zeit brauchte mein Verein dringend Schiedsrichter, um Strafzahlungen zu vermeiden. Man fragte mich, ob ich nicht ein Unparteiischer werden wollte. Mein Talent auf dem Platz schien also verzichtbar. Ich sagte zu, absolvierte Kurs und Test, pfiff ein paar Spiele von Jugendteams, bald schon Senioren, kurz darauf auch höherklassig. Höher als ich jemals hätte spielen können. Alleine oder im Gespann ging es jedes Wochenende zweimal auf Fussballplätze in ganz Bayern. In keiner Zeit schenkte ich dem Fussball mehr von meiner Freizeit.

Ich war an der Basis des Fussballs. Dort, wo die Faszination entsteht. Wo der Maurer mit dem Anwalt aus dem Dorf am Sonntag in der Amateurliga gegen den Nachbarort alles gibt. Wo Zuschauer das Geschehen auf dem Platz lautstark kommentieren. Wo nach dem Schlusspfiff im Sportlerheim die Gegner auf dem Platz wieder zusammensitzen und das Spiel bei Bier und Bratwurst verarbeiten.

Ich hatte das Gefühl, einen kleinen Teil dazu beizutragen. Als Schiedsrichter war ich eine Art Moderator auf dem Platz. Hitzköpfe beruhigen, Spielfluss zulassen, Regeln durchsetzen. Als Schiedsrichter entschied ich manchmal mit über Auf- und Abstieg. Und erlebte sie auch selbst. Wie der Schiedsrichter ein Spiel leitete, wurde bewertet. Die Noten entscheiden am Ende der Saison, ob man sich für eine höhere Klasse qualifiziert hat. Für ganz oben reichte es bei mir nicht. Aber ich gab nicht dem Fussball die Schuld.

Wetter und Atmosphäre trist, aber das Schiedsrichter-Team ist bester Stimmung. Rechts bin ich als Assistent zu sehen, der in den folgenden 90 Minuten die Seitenlinie beackert.
Wetter und Atmosphäre trist, aber das Schiedsrichter-Team ist bester Stimmung. Rechts bin ich als Assistent zu sehen, der in den folgenden 90 Minuten die Seitenlinie beackert.

3. Ich wechsle vom Spielfeld auf die Zuschauerplätze

2008 hing ich die Pfeife an den Nagel. Zwei Dutzend Schiedsrichter-Trikots gingen in die Altkleider-Sammlung. Beruf und Familie waren die neuen Prioritäten. Dem Fussball blieb ich als Zuschauer und Beobachter treu. Eine Zeitlang noch.

2007 gewann «mein Verein» noch einmal einen Titel, der 1. FC Nürnberg wurde Pokalsieger. Um in der Folgesaison direkt aus der Bundesliga abzusteigen. In dieser Zeit war ich auch noch ein paar Mal im Stadion, um Spiele live zu sehen. Die Inszenierung nahm damals bereits ihren Lauf. Ich erinnere mich, dass über die Stadionlautsprecher jeder Eckball von einem zischenden Kronkorken und einem Slogan für das lokale Bier präsentiert wurde. Überhaupt wurde plötzlich alles von irgendwem präsentiert: Zuschauerzahl, Spieler des Spiels, Abtransport eines Verletzten mit Trage.

Die «Champions League» wurde immer weiter aufgebläht, gefühlt darf heute auch das in der Fünfjahreswertung drittplatzierte Team aus der litauischen Liga noch an der Vorqualifikation teilnehmen. Falls das Team es doch nicht schafft, bleibt die Europa League, einst der stolze Uefa-Cup – und damit noch mehr Vereine aus noch kleineren Ligen ihr europäisches Fussballerlebnis bekommen, gibts darunter sogar noch die Conference League. Mehr Spiele, mehr Geld. So läuft das seit Jahren. Die Bundesliga-Schaltkonferenz am Samstag im Radio wurde irrelevant, weil die Spiele auf immer mehr unterschiedliche Anstosszeiten verteilt wurden. Für die Pay-TV-Anbieter dagegen war es der Weg zu immer mehr zahlenden Kunden, die für Live-Übertragungen von Freitag bis Sonntag immer teurere Abos kauften. Die Vereine machten mit, weil ihre Einnahmen durch den Verkauf der TV-Rechte stiegen. Die Fans im Stadion, die ihr Ticket an der Stadionkasse kauften, wurden im Verhältnis immer unbedeutender. Trotzdem mussten sie sich beschimpfen lassen, dass sie nicht weiterhin für tolle Stimmung sorgten – so geschehen beim FC Bayern München.

Die Zuschauer waren für die Fussball-Bosse offensichtlich zur Masse geworden, die zur Optimierung der TV-Gelder nach Belieben als Kulisse dienen.

4. Viel zu viel Geld regiert die Fussballwelt

2010 vergab die Fifa die Austragung der Weltmeisterschaften für die Jahre 2018 und für 2022 auf einen Schlag. An Russland und an Katar. Damals war Putin für manche zwar noch ein «lupenreiner Demokrat», aber seine Regierung auch nicht über jeden Zweifel erhaben. Und Katar … naja, das war ein Schlag ins Gesicht für jeden, der den Fussball liebt. Dass Fussball in der Wüste eine Idee aus der Kategorie Kühlschrankhandel in der Antarktis ist, hätte man ahnen können. Doch die Entscheidung war sowieso eher durch Korruption andere Dinge motiviert.

Vor Infantino hatte ich einen kurzen Moment Hoffnung. Sepp Blatter war als Fifa-Chef gerade abgetreten. War die Vergabe des wichtigsten Fussballturniers doch nur der Ausrutscher eines korrupten Klüngels? Hatte der Fussball sein Herz doch noch nicht verloren? Nein, die WM 2010 in Südafrika und die 2014 in Brasilien bewiesen es ja: Der Fifa ging es immer nur ums eigene Image. Immer mehr bestimmten die Funktionäre, was die Welt vom Weltereignis zu sehen bekommen sollte. Soziale Unruhen im Umfeld? Bitte nicht. Während der Spiele durften die Kameraleute Flitzer nicht mehr zeigen, auch obszöne Gesten von Fans nicht. Stattdessen hat die Regie solche Peinlichkeiten mit Bildern von lächelnden Fans zu überblenden, gerne weiblich, gerne blond. Dass heute sogar geregelt ist, welches Bier rund ums Stadion ausschliesslich verkauft werden darf, fällt da schon fast nicht mehr auf.

Nicht nur die Fifa war verrückt geworden. In Europa gingen steinreiche Männer auf Shopping-Tour. Sie übernahmen ganze Vereine für Milliarden, pumpten Millionen in die Teams. Beim 1. FC Nürnberg – dessen Historie mir am besten bekannt ist – gab es ähnliche Vorgänge: Dort hat der Präsident, im Hauptberuf Teppichhändler, dem Club aus seinem Vermögen durchaus mal Kredite gewährt. Doch das Gebaren der russischen Oligarchen und der arabischen Emire hatte andere Dimensionen. 2017 wechselte Neymar vom FC Barcelona zu Paris St. Germain – für die irrwitzige Summe von 222 Millionen Euro. Zumindest war das die offiziell kolportierte und die wohl irgendwie noch mit den «Financial Fairplay»-Regeln kompatibel war. Hintenrum floss wohl viel mehr Geld für den Transfer, bezahlt vom katarischen Ministerium für Tourismus. Katar wollte den Superstar einfach bei «seinem» Club PSG wissen, wo er auch besser für die WM in Katar werben konnte als beim FC Barcelona. Das alles sind ziemlich offene Geheimnisse. Das «Financial Fairplay» der Uefa ist das Papier nicht wert, auf dem es geschrieben wurde.

Im Fussball steckt heute so viel Geld wie noch nie. Investoren kaufen und verkaufen Vereine, häufen Schulden an, um den Stars Löhne von bis zu einer Million Euro zu bieten – pro Woche. Die Verbindlichkeiten eines FC Barcelona, Inter Mailand oder Chelsea sind so hoch, dass der finanzielle Kollaps unausweichlich erscheint. Trotzdem werden Stars weiterhin munter hin- und her transferiert. Sehr zur Freude der Gilde der Spielerberater. Die Spieler selbst drehen mit am grossen Rad, fühlen sich im Herbst ihrer Karriere noch einmal bereit für eine neue Liga (Lewandowski), verraten von ihrem aktuellen Verein, weil sie auf der Reservebank Platz nehmen müssen (Ronaldo). Oder sie sitzen hoch dotierte Verträge einfach aus und gehen an Spieltagen auf den Golfplatz (Bale).

5. Was ist eigentlich noch echt?

Ich will und kann das nicht mehr unterstützen. Klopft sich ein Spieler nach dem Torerfolg auf die Brust, oder erdreistet sich gar das Wappen seines aktuellen Vereins zu küssen – ich gebe auf diese Gesten nichts mehr. Die meisten dieser Herren haben doch nur ihr eigenes Aus- und Fortkommen im Blick.

Einstudierte Jubelposen werden in Fussballsimulationen zweitverwertet und unters junge Fussballvolk gebracht. Im erfolgreichsten Game, der Fifa-Reihe von EA Sports, können die Spielerinnen und Spieler viel Geld für virtuelle Sammelkarten ausgeben – mit Methoden, die an Psychotricks aus der Glückspielbranche erinnern. In der analogen Welt füllt Panini das Sammelalbum zur Katar-WM mit 670 Stickern und damit so vielen wie noch nie. In dieser neuen Fussballwelt sind die Fans zum Goldesel geworden. Den Kindern geht es ans Taschengeld, den Eltern ans Haushaltsbudget für überteuerte Merchandise-Artikel und Pay-TV.

Ich mache da nicht mehr mit. Der Fussball, den Fifa und Uefa, Scheichs und Oligarchen, Spieler und Agenten kaputt gemacht haben, ist nicht mehr der Fussball, den ich als Kind und Jugendlicher geliebt habe. Er ist ein Produkt. Und das ist eigentlich das Schlimmste, was man über ihn sagen kann.

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Journalist seit 1997. Stationen in Franken, am Bodensee, in Obwalden und Nidwalden sowie in Zürich. Familienvater seit 2014. Experte für redaktionelle Organisation und Motivation. Thematische Schwerpunkte bei Nachhaltigkeit, Werkzeugen fürs Homeoffice, schönen Sachen im Haushalt, kreativen Spielzeugen und Sportartikeln. 


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