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Meinung

Geschwister gleich behandeln? Bitte nicht!

Eltern wollen kein Kind bevorzugen, trotzdem beklagen sich Geschwister über Ungerechtigkeiten. Die gibt es. Doch Kinder gleich zu behandeln ist nicht automatisch fair.

Es ist eine Schlagzeile, die mich erst verfolgt und dann nachdenklich gemacht hat: «Eltern haben ein Lieblingskind.» Dieser Satz wurde mir in etlichen Variationen immer wieder in den News-Feed gespült. Natürlich hat es nicht lange gedauert, bis ich ihn angeklickt habe. Dafür wurde die Schlagzeile getextet. Und sie ist gut. Denn dieser Klick hat sofort Fragen ausgelöst: Wurde ich bevorzugt oder benachteiligt? Bin ich selbst unfair zu meinen Kindern? Was steckt dahinter?

Ältere Geschwister, gewissenhafte Kinder und generell Mädchen würden bevorzugt, musste ich lesen und wollte das schon als Blödsinn abtun. Doch als jüngerer Bruder einer gewissenhaften grossen Schwester, der Kinder in der gleichen Konstellation hat, fing die Nachricht an, in mir zu arbeiten. Die Quelle war seriös und nach und nach griffen immer mehr Medien sie auf. Hinter der Aussage steht keine TikTok-Umfrage und auch keine Momfluencerin auf Instagram, sondern eine Meta-Analyse, deren Ergebnisse im angesehenen Psychological Bulletin veröffentlicht wurden. Die wissenschaftliche Wahrheit über mehr als 19’000 Teilnehmende diverser Studien und deren Familienverhältnisse. Auf jeden Fall einen Blick wert.

Wir tappen alle in die Falle

In Schlagzeilen klingt immer gleich alles absolut. So ist es, und nicht anders. Hier ein Vorteil. Dort ein Nachteil. Deshalb: Skandal! In der Realität geht es um Nuancen. Kleine Unterschiede im Umgang, die sich aufsummieren. Um Entscheidungen, die Eltern oft unbewusst und zum Vorteil der einen oder des anderen fällen – ohne böse Hintergedanken. Und ohne dass es von den Kindern zwingend als unfair wahrgenommen wird. So haben Eltern das Gefühl, ihre Töchter etwas zu bevorzugen und ihnen emotional näher zu sein, wohingegen die Kinder sich meist gleich behandelt fühlen. Die Eltern hinterfragen sich, die Kinder sind zufrieden – das ist doch eigentlich eine gute Nachricht.

Die schlechte Nachricht ist, dass sich wahrscheinlich nicht alle ständig hinterfragen, wenn sie nicht gerade an einer Studie teilnehmen. Und dass sich in jeder Familie Muster einschleichen, die als normal empfunden werden. Alle haben ihre Rolle und müssen wie Schauspielerinnen und Schauspieler aufpassen, nicht zu früh und für alle Zeiten in eine Schublade gesteckt zu werden. Denn die Rollen beeinflussen sich gegenseitig, sie können beflügeln oder lähmen.

Geschwister sind nicht gleich – und sollten auch nicht gleich behandelt werden. Sondern fair.
Geschwister sind nicht gleich – und sollten auch nicht gleich behandelt werden. Sondern fair.
Quelle: Shutterstock/Maria Symchych

Eltern sollten ihren Kindern nicht sagen, was oder wie sie sind, sondern aufzeigen, was sie alles sein können. Dafür brauchen Kinder Selbstbewusstsein. Dazu gehört auch, ab und zu Grenzen auszutesten. Das kann anstrengend sein. Ein ungesunder Trend zeigt sich in der Studie aber deutlich: Pflegeleichte, zuverlässige Charaktere werden mit mehr Zuneigung belohnt. Ist das fair? Nein.

Aber es überrascht mich nicht. In diese Falle tappe ich, tappen wir alle gelegentlich. Die Hauptsache ist, dass der Alltag wie geschmiert läuft. Wer da nicht mitzieht, bekommt schneller Probleme. Je mehr die Eltern selbst am strampeln sind, desto eher gibt es Konflikte und die Zuwendung bekommt Schlagseite. Zimmer aufgeräumt? Hausaufgaben gemacht? Eine gute Note aus der Schule mitgebracht? Natürlich gibt es dafür Lob. Wir sind schliesslich froh, wenn alles nach Plan läuft, sind stolz und laden uns mit guten Gefühlen auf – auch wenn ein anderer Charakterkopf vielleicht darunter leidet.

Wer anders ticken darf, explodiert nicht so schnell

Unausgesprochen erhöht jedes Lob für die Unkomplizierten den Druck auf Geschwisterkinder, die etwas anders ticken. Die vor sich hin prokrastinieren und Kringel aufs Blatt malen, statt endlich in ihre Aufgaben einzutauchen. Die sich austoben oder anders ausleben müssen, bevor sie den Fokus finden. Die unter einem vollen Terminkalender leiden.

Ihr mentaler Rucksack wird schwerer, wenn sie nach einem langen Schultag das Gefühl mit nach Hause bringen, etwas verbockt oder unabgehakt auf der To-do-Liste zu haben. Das hat Folgen. Sowohl schulisch als auch psychisch stehen sie der Studie zufolge später im Leben schlechter da, wenn sie regelmässig Konflikte mit den Eltern austragen. Ihr Problem ist, dass von allen das Gleiche erwartet wird. Fair wäre es, anders auf sie einzugehen.

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Zu fordern hilft in vielen Situationen weniger, als zu verstehen, dass der Kinderkopf gerade nicht frei für neue Aufgaben ist. Dass das Problem anders gelöst werden muss, auch wenn es den schönen Tagesplan zerschiesst. Wer sich verstanden fühlt, ist erleichtert – und tut sich leichter. Wer anders ticken darf, explodiert nicht so schnell. Meistens hilft es, ruhig zu bleiben, die Perspektive zu wechseln und zu reden. Miteinander. Und übereinander. Nicht über andere.

Kein Vergleich wird dem Kind gerecht

Naheliegend, aber gefährlich ist der Quervergleich: «Nimm dir mal ein Beispiel an …» ist ein Satz, der schnell rausrutscht, aber auf den Index gehört. Weil er viel kaputt machen kann. Kinder vergleichen sich ohnehin ständig. In der Schule. Beim Sport. Und zu Hause mit Geschwistern. Wobei dieser Vergleich besonders hinkt, wenn der Altersunterschied vergessen geht. Und besonders schmerzt, wenn er erwähnt wird: Sätze wie «dein Bruder konnte das in deinem Alter schon …» sind eine verbale Ohrfeige. Kinder sind nicht gleich. Vergleiche sind nicht fair.

Natürlich konkurrieren Geschwister. Und sie haben ihre Trümpfe. Nesthäkchen können auf die Tränendrüse drücken und mit Nachsicht rechnen. Ältere kosten ihre Überlegenheit aus – und sind ihrerseits frustriert, wenn den Kleinen schon früh alles zufällt, was sie sich hart erkämpfen mussten. Süssigkeiten. Bildschirmzeiten. Sackgeld. Den Grossen mag das unfair erscheinen, und das ist es gelegentlich auch. Doch die Situation ist nicht gleich. Und eher zum Nachteil der Kleinen, die auf den ersten Blick ein klitzekleines Bisschen bevorzugt werden.

Das ist unfair! Oder?
Das ist unfair! Oder?
Quelle: Shutterstock/Maria Symchych

Allerdings verschiebt sich der Vorteil nach Ansicht der Wissenschaftler unter bestimmten Bedingungen. Nämlich dann, wenn die Älteren grössere Freiheiten bekommen: Sie profitieren und entwickeln sich besser, wenn sie in der Kindheit und Jugend selbstbestimmter unterwegs sein dürfen, während sich die Eltern auf die jüngeren Geschwister konzentrieren.

Das ist die statistische Wahrheit, die sich in Tendenzen zeigt. Daraus mitnehmen lässt sich vor allem der Vorsatz, das eigene Verhalten stetig zu hinterfragen. Erziehung ist zum Glück keine Wissenschaft, sondern ein Mix aus Liebe, Intuition und Überzeugungen.

Nur eines muss gleich sein

Ich erlebe es als herausfordernd, alles im Blick zu haben und die grossen oder kleinen Momente des Lebens angemessen einzuordnen. Ist es fair, den gleichen Massstab anzulegen, auch wenn eine Aufgabe das eine Kind nur ein müdes Lächeln und das andere mächtig Überwindung kostet? Ungefähr so fair, wie die Latte beim Hochsprung für alle gleich hoch zu legen. Die Kunst besteht darin, dass sich alle gesehen und geschätzt, gefordert und gefördert fühlen.

Das geht nur über Zeit zu zweit. Über Gespräche, eine Erklärung und ab und zu auch mal eine Entschuldigung: Ich weiss, hier behandle ich euch nicht gleich. Sorry. Aber das ist der Grund dafür und ich versuche, fair zu sein. Du hast in anderen Punkten deine Vorteile. Nur so wächst das gegenseitige Verständnis und die Erkenntnis, dass wir alle verschiedene Bedürfnisse haben. Schlussendlich muss nur eines wirklich gleich sein: Der Respekt vor anderen Menschen und Meinungen. Wenn die Kinder den verinnerlicht haben, kommt der Rest schon gut.

Titelbild: Shutterstock/Maria Symchych

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Einfacher Schreiber, zweifacher Papi. Ist gerne in Bewegung, hangelt sich durch den Familienalltag, jongliert mit mehreren Bällen und lässt ab und zu etwas fallen. Einen Ball. Oder eine Bemerkung. Oder beides.

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