Ich dachte, ich hätte mein E-Bike im Griff – denkste!
Hintergrund

Ich dachte, ich hätte mein E-Bike im Griff – denkste!

Wer mit dem E-Bike unterwegs ist, kann viel falsch machen – auch als erfahrener Velofahrer. Das lerne ich bei einem E-Bike-Kurs mit einem Präventionsexperten der Zuger Polizei.

Remo Zemp weiss ziemlich gut, was ihn erwartet. Die Teilnehmenden am Fahrsicherheitskurs für E-Bike-Lenker sind dagegen einfach nur gespannt. Ein knappes Dutzend Männer und Frauen haben sich für den Kurs angemeldet, der gemeinsam organisiert wurde von Pro Senectute Kanton Zug, der Zuger Polizei und der TCS-Sektion Zug. Ihr Ziel: sicher auf dem E-Bike unterwegs sein. Dominierende Haarfarbe ist grau, des E-Bikers Uniform ist die Daunensteppjacke. Es sind Menschen, die ihre Freizeit gerne mit dem E-Bike verbringen, für Touren durch die Natur oder auch für Besorgungen in der Stadt.

Für den Kurs haben sie 50 Franken Teilnahmegebühr bezahlt und investieren zwei Vormittage. Ich nehme auch am Kurs teil – auf Arbeitszeit, Stichwort Recherche, und auf Spesen von Galaxus.

Bremsbereit und sicher

An Tag eins stehen die Grundlagen auf dem Programm. Auf dem Betonplatz vor der Eishockey-Arena des EV Zug pfeift an einem kalten Dienstagmorgen im April der Wind durch die Kleider. Die Polizei ist bereits da, als die Teilnehmerinnen und Teilnehmer anrollen. Remo Zemp, Leiter der polizeilichen Präventionsstelle bei der Polizei in Zug, hat auf dem Gelände bereits bunte Hütchen aufgestellt. Es sind verschiedene Parcours, die später abgefahren werden sollen.

Bevor es aber in die Sättel geht, gibt es etwas Theorie. Zemp kennt die Defizite, die vor allem Neu-E-Bike-Fahrer haben. Er legt den Finger in die Wunde, aber so, dass es nicht weh tut. Seine lockere, humorvolle Art kommt gut an in der Runde der Lernwilligen. Als erstes verabschieden sie sich vom «Affengriff», bei dem der Lenker mit Daumen und allen vier Fingern umschlossen wird. Wer so fahre, erklärt Zemp, verliere bei Gefahr wertvolle Zeit, bevor er oder sie bremsen kann. Deshalb: Ein oder zwei Finger sollten immer am Bremshebel liegen.

So ist's richtig: Daumen, Ring- und kleiner Finger sind um den Griff, Zeige- und Mittelfinger bremsbereit.
So ist's richtig: Daumen, Ring- und kleiner Finger sind um den Griff, Zeige- und Mittelfinger bremsbereit.
Quelle: Christian Walker

Kraft habe man auch mit einem Finger genug. Denn E-Bikes haben in der Regel Scheibenbremsen mit hydraulischer Kraftübertragung. Eine Vollbremsung ist auch mit nur je einem Finger an vorderer und hinterer Bremse möglich, wie Zemp kurzerhand selbst vorführt. Er betätigt beide Bremsen, nicht nur die am Hinterrad. Könnte da nicht das Vorderrad blockieren? Um das zu verhindern, ist es wichtig, Vorder- und Hinterradbremse gleichzeitig zu nutzen und dabei keine der beiden Bremsen zu stark zu betätigen. «Bremsen mit Gefühl» nennt Zemp das. Richtiges Bremsen ist also Übungssache. Am besten probiert man das auf einer Fläche ohne Verkehr aus.

Beim Bremsen mit dem E-Bike solltest du wissen, dass höhere Geschwindigkeit und ein höheres Gesamtgewicht den Bremsweg deutlich verlängern. Wer zum Beispiel mit 25 km/h fährt, hat einen fast 19 Meter langen Anhalteweg. Das ist fast doppelt so viel wie bei einem «normalen» Velo, das mit 15 km/h unterwegs ist. Die besseren Bremsen eines E-Bikes gleichen also den Nachteil des höheren Tempos nicht aus.

Bremsen kann allerdings auch nur, wer fährt. Deshalb schickt der Polizist die Gruppe nach der Theorie auf die Strecke. Die Helme sitzen bei allen richtig: Keiner ist bei heftigem Nicken oder Kopfschütteln zu locker, bei allen ist über dem Nasenbalken zwei Fingerbreit Platz. Perfekt.

Auf dem Platz geht es geradeaus, in definierten Kurven links und rechts herum und im Slalom durch die Hütchen. Am Ende ist niemand unfreiwillig abgestiegen, niemand kollidiert. Tipps vom Kursleiter gibt es natürlich trotzdem. Einige Teilnehmerinnen und Teilnehmer haben ihren Sattel zu hoch eingestellt. Sie können, wenn sie anhalten, nicht im Sattel sitzen bleiben und sich gleichzeitig mit einem Fuss am Boden abstützen. Genau damit aber, so Zemp, wäre ein stabiles Stehen und vor allem Anhalten möglich. Wer nämlich zu hoch sitzt, hat kurz vor dem Stillstand ein Problem. Er oder sie muss dann aus dem Sattel und bei sehr langsamer Fahrt gleichzeitig bremsen und Stabilität finden. Zemp kann hier schnell helfen: Mit einem passenden Inbusschlüssel werden die Sattelhöhen direkt angepasst. Nicht zur Freude einiger E-Biker, die eine höhere und damit etwas bequemere Sitzposition beim Fahren bevorzugt hätten. Aber wer mag schon einem Polizisten widersprechen? Das Motto lautet: Sicherheit geht vor. Meine Sattelhöhe ist übrigens gerade noch okay; ich komme mit dem Fussballen auf den Boden. Glück gehabt!

Duett von Motor und Gangschaltung

Und dann wäre da noch die Sache mit der Motorunterstützung und dem richtigen Gang. Bei den Fahrübungen auf dem Platz geht es mal schneller und mal gemütlicher zu. Nach Geschmack von Remo Zemp haben die E-Biker dafür zu wenig durch die Gänge geschalten. Wer E-Bike fährt, tendiere dazu, weniger mit der Gangschaltung zu arbeiten. Die Leute würden stattdessen die Stufen der Motorunterstützung nutzen. Das ist dann ein Problem, wenn man mit einem zu hohen Gang wieder anfahren will. Es ist so schwieriger, das Gleichgewicht zu halten. Zudem kann die Motorunterstützung plötzlich greifen und dem E-Bike einen unerwarteten Schub verleihen. Beides bedeutet erhöhte Sturzgefahr. Deshalb: Vor dem Anhalten runterschalten. Sowieso empfiehlt es sich, vor einer Fahrt eine Stufe für die Fahrunterstützung zu wählen und dabei zu bleiben. Ausnahmen sind absehbare und längere Steigungen, wo sich eine höhere Stufe über längere Zeit lohnt.

Remo Zemp hat die Teilnehmerinnen und Teilnehmer während der Fahrübungen im Blick
Remo Zemp hat die Teilnehmerinnen und Teilnehmer während der Fahrübungen im Blick
Quelle: Christian Walker

Tag 2

Auch Tag zwei beginnt mit Theorie, bevor wir hinaus in die freie Wildbahn, sprich auf die Strasse dürfen. Dorthin, wo die Unfälle passieren. Du, liebe Leserin und lieber Leser, darfst mitraten:

E-Bikes und Sicherheit

Wie viel Prozent aller Unfälle mit E-Bikes sind sogenannte Selbstunfälle, also solche ohne Beteiligung anderer Verkehrsteilnehmer?

Der Wettbewerb ist inzwischen beendet.

Bei deutlich über der Hälfte aller Unfälle von Personen auf einem E-Bike ist ausser dem Fahrer oder der Fahrerin selbst niemand anderes beteiligt, wie die Statistiken der Beratungsstelle für Unfallverhütung (BFU) zeigen. Mit der Antwort «55 Prozent» bist du also richtig gelegen.

Am häufigsten passieren Unfälle während der Fahrt auf gerader Strecke. Fragt man die Verunfallten, nennen sie zu 31 Prozent «Ausrutschen» als Grund, zu 18 Prozent «Überqueren eines Hindernis» und zu 13 Prozent Bahn- oder Gleisschienen. Die Polizei kategorisiert die Gründe für einen Unfall anders. Hier sind «Unaufmerksamkeit/Ablenkung» und «Alkohol» die beiden Hauptgründe.

Wenn es zu Zusammenstössen mit anderen Verkehrsteilnehmenden kommt, gibt es einen grossen Gefahrenherd: den Kreisverkehr. Vier von zehn Unfällen passieren dort, in nur vier Prozent aller Fälle sind die E-Bike-Lenkenden hauptschuldig. Da liegt es auf der Hand, dass Zemp die Gruppe am zweiten Tag so oft durch den Kreisverkehr radeln lässt, dass einem beim Zuschauen fast schwindlig wird.

Remo Zemp erklärt, wo den E-Bikerinnen und -Bikern die Gefahren im Strassenverkehr drohen.
Remo Zemp erklärt, wo den E-Bikerinnen und -Bikern die Gefahren im Strassenverkehr drohen.
Quelle: Christian Walker
Theorie mit Kreide und einem Leuchtmarker als Velo: Kursteilnehmende diskutieren das korrekte Linksabbiegen.
Theorie mit Kreide und einem Leuchtmarker als Velo: Kursteilnehmende diskutieren das korrekte Linksabbiegen.
Quelle: Christian Walker

Der Kreisverkehr ist heute im Strassenbau sehr in Mode. Seit Anfang der 90er-Jahre ersetzen sie immer häufiger klassische Kreuzungen. Trotzdem: Wer heute im höheren Alter beginnt, E-Bike zu fahren, hat diesen als junger Mensch noch gar nicht gekannt, sagt Zemp. Deshalb frischt er die Regeln auf:

  1. Vor der Einfahrt in den Kreisverkehr Schulterblick und Handzeichen.
  2. Bei Verlassen des Kreisverkehrs an der ersten Ausfahrt möglichst weit rechts bleiben; beim Ausfahren ebenfalls wieder Schulterblick und Handzeichen.
  3. Wer eine halbe oder dreiviertel Runde im Kreisverkehr fährt, wechselt vor Einfahrt in die Fahrbahnmitte; nach Handzeichen natürlich.
  4. Im Kreisverkehr wird in der Fahrbahnmitte gefahren; Autos dürfen nicht überholen.
  5. Vor Verlassen des Kreisverkehrs Schulterblick und Handzeichen; nach Ausfahren wieder am rechten Fahrbahnrand einspuren.

Wenn du lieber im Video siehst, wie du mit dem Velo durch den Kreisel kommst, dann ist das das richtige Video für dich:

Grundsätzlich empfiehlt Zemp eine defensive Fahrweise, klare Zeichen an die Autofahrenden, im Idealfall sogar den kurzen Blickkontakt zu denen, die in den Kreisel hineinfahren wollen. Viele Autofahrer seien im Kreisverkehr nicht aufmerksam genug, haben nur die Ausfahrt im Blick und vergessen den Blinker zu setzen. Als E-Bikerin oder als E-Biker schütze man sich am besten, wenn man für die anderen mitdenkt und die Gefahren kennt, so Zemp.

Ein E-Bike ist kein Velo. Es ist wichtig, das E-Bike zu beherrschen, die Verkehrsregeln zu kennen, sich durch entsprechende Kleidung gut sichtbar zu machen und mit Zeichen Klarheit zu schaffen gegenüber anderen.
Remo Zemp, Leiter der polizeilichen Präventionsstelle, Polizei Zug

Eines zumindest habe ich mir nach zwei Tagen Fahrtraining direkt angeeignet: Beim Abbiegen strecke ich jetzt immer gut sichtbar den Arm in den Wind. So vorbildlich wie ich das wohl zuletzt bei der Veloprüfung in der Primarschule gemacht habe. Und das ist nicht alles: Auch wenn in der Theorie vieles einleuchtete – in der Praxis wird man, auch ich, mit der Zeit schon mal schludrig. Durch den E-Bike-Kurs habe ich als vermeintlich jederzeit korrekter E-Biker einige schlechte Angewohnheiten vorgeführt bekommen und kann sie mir abgewöhnen. Für so eine Lektion ist man nie zu jung.

Schulterblick und dann kommt gleich das Handzeichen – ich habe meine Lektion gelernt.
Schulterblick und dann kommt gleich das Handzeichen – ich habe meine Lektion gelernt.
Quelle: Christian Walker

Kurse für E-Bike-Fahrerinnen und -Fahrer bieten in der Schweiz verschiedene Stellen an. TCS, Polizei und Pro Senectute in Zug bieten im Mai, Juni und August den Kurs an, an dem ich teilnehmen durfte; Informationen dazu auf dieser Website mit dem Suchbegriff «E-Bike». Informationen zu Kursen in deiner Region findest du auf der Seite des TCS. Weitere Kurse, auch von privaten Anbietern findest du mit der entsprechenden Google-Suche.

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Journalist seit 1997. Stationen in Franken, am Bodensee, in Obwalden und Nidwalden sowie in Zürich. Familienvater seit 2014. Experte für redaktionelle Organisation und Motivation. Thematische Schwerpunkte bei Nachhaltigkeit, Werkzeugen fürs Homeoffice, schönen Sachen im Haushalt, kreativen Spielzeugen und Sportartikeln. 


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