Jede*r hört anders: Von Ohrpolstern, Brillen und Schädelformen
Hintergrund

Jede*r hört anders: Von Ohrpolstern, Brillen und Schädelformen

David Lee
9.8.2022

Mit speziellen Geräten lässt sich der Frequenzgang eines Kopfhörers messen. Lässt sich damit objektiv sagen, wie ein Kopfhörer klingt? Nicht ganz, denn zahlreiche Faktoren können die Ergebnisse beeinflussen.

Seit kurzem verfüge ich über das Messgerät MiniDSP Ears. Damit lässt sich der Frequenzgang eines Kopfhörers messen. Dieser gibt für jede hörbare Frequenz an, wie hoch der Schallpegel ist, was Rückschlüsse auf das Klangbild zulässt. Hat zum Beispiel Kopfhörer A eine U-förmige Frequenzkurve und Kopfhörer B eine mehr oder weniger waagrechte Linie, kannst du daraus ablesen, dass Kopfhörer A die Bässe und Höhen stärker betont und die Mitten vernachlässigt.

Das ist alles sehr vereinfacht ausgedrückt. Die genaue Interpretation solcher Grafiken ist ein Thema für sich, auf das ich hier nicht weiter eingehe.

Mein erster Versuch mit dem Beyerdynamic DT 770 Pro liefert ein Resultat, das mich stutzig macht. Der linke Kanal ist im Bassbereich viel lauter als der rechte. Bei der tiefsten gemessenen Frequenz von 20 Hertz beträgt der Unterschied mehr als 10 Dezibel.

Habe ich etwas falsch gemacht? Im Benutzerhandbuch des Messgeräts steht, dass Unterschiede im Bassbereich bei solchen Messungen normal sind. Das liegt daran, dass der Kopfhörer nie zweimal genau gleich montiert wird. Mal liegt der Kopfhörertreiber einen Millimeter mehr in diese oder jene Richtung, und auch der Andruck der Ohrpolster ist nicht immer gleich. Je nachdem dichten sie den Sound besser oder schlechter ab.

Für die Messungen wird empfohlen, jeden Kanal fünfmal zu messen und den Durchschnitt zu nehmen. Die folgende Grafik zeigt die Einzelmessungen. Dabei habe ich nach jeder zweiten Messung – einmal links, einmal rechts – die Kopfhörer neu aufgesetzt, aber sorgfältiger als im allerersten Versuch. Die Unterschiede sind entsprechend nicht mehr so extrem.

Auch im Alltag setzen wir die Kopfhörer nicht immer gleich und nicht symmetrisch auf. So gesehen ist es sinnvoll, einen Durchschnittswert mehrerer Messungen zu nehmen. Allerdings kommen viele weitere Faktoren hinzu, die den Klang beeinflussen.

Brille und Over-Ear

Wer einen Over-Ear-Kopfhörer über der Brille trägt, kennt das: Der Brillenbügel verhindert die Rundumabdichtung, der Kopfhörer klingt hörbar anders. Dies spiegelt sich auch im Frequenzgang deutlich wider. Hier habe ich den gleichen Kopfhörer mehrmals mit Brille gemessen. Der Unterschied zum Durchschnitt ohne Brille ist deutlich.

Als Brillenträger könntest du einfach auf Over-Ear-Kopfhörer verzichten und stattdessen In-Ears verwenden. Willst du das nicht, wäre vielleicht ein basslastiges Modell passend, da ein Teil der Basswirkung verpufft. Darauf würde ich mich aber nicht verlassen, ohne zuerst probezuhören. Denn es kommt sehr auf den Kopfhörer und auf die Brille an, wie viel Bass verloren geht.

Interessant in diesem Zusammenhang sind Kopfhörer mit offener Bauweise. Diese Modelle müssen genügend Bass auch ohne vollständige Abdichtung hinkriegen. Deshalb variiert die Basslautstärke weniger stark.

Hier meine fünf Messungen für den Beyerdynamic DT 990 Pro. Das ist ein offener Kopfhörer. Ansonsten ist er sehr ähnlich wie der geschlossene DT 770 Pro. Du siehst hier, dass die Einzelmessungen viel näher beieinander liegen als beim DT 770 Pro.

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Individuelle Anatomie

Wie gut ein Ohrpolster abdichtet, hängt auch vom jeweiligen Kopf ab – sei es wegen der Schädelform, der Frisur oder dem Bartwuchs. Hier nützt dann der Durchschnitt mehrerer Messungen nichts mehr.

Grosse individuelle Unterschiede gibt es auch bei der Form und Grösse der Ohren sowie des Gehörgangs. Diese wirken sich nicht auf die Bässe, sondern auf die hohen Frequenzen aus. Es gibt zwar die Theorie, dass unser Gehirn diese individuellen Unterschiede ausgleicht, weil sie in unserem Leben konstant sind. Die Wahrnehmung höherer Frequenzen wäre demnach auch bei Menschen mit grossen anatomischen Unterschieden ähnlich. Messen und beweisen lässt sich das aber kaum. Das Testportal rtings.com geht auf Nummer sicher und misst den Frequenzgang deshalb nicht nur mit dem Messgerät, sondern zusätzlich an mehreren unterschiedlichen Personen.

Da auch die Messgeräte unterschiedlich gebaut sind, lassen sie sich ebenfalls nur bedingt untereinander vergleichen. Besonders übel wird es, wenn das Silikon-Ohr des Messkopfs zu gross ist für einen Kopfhörer. Dann kann der Kopfhörer gar nicht so montiert werden, dass eine realistische Messung möglich ist.

Neue Ohrpolster

Die Ohrpolster der meisten Kopfhörer lassen sich austauschen, und auch das kann zu merklichen Sound-Veränderungen führen. Alte, kaputte Ohrpolster dichten natürlich weniger ab als neue. Oft sind die Ersatzpolster aber auch anders. Bei meinem Sennheiser Momentum 2 haben sie eine andere Form als die ursprünglichen Polster, sie werden unten breiter. Dadurch schliessen sie zumindest bei meiner Kopfform besser ab – mit einem entsprechenden Bass Boost.

Messungen richtig einordnen

Bei all dem Wenn und Aber stellt sich die Frage: Bringen Kopfhörermessungen, wie sie mit dem miniDSP Ears möglich sind, überhaupt etwas? Ich denke schon. Verschiedene Modelle lassen sich so unter nahezu identischen Bedingungen vergleichen. So lässt sich durchaus bestimmen, ob ein Modell eher die tieferen, mittleren oder hohen Frequenzen betont. Auch wenn der Frequenzgang an deinem Kopf etwas anders aussehen würde. Die Streuung der einzelnen Messungen zeigt auch, wie gut du dich auf das Durchschnittsergebnis verlassen kannst. Beispielsweise kannst du beim DT 990 Pro stärker auf die Messresultate zählen als beim DT 770 Pro.

Die Messungen sind also nicht nutzlos, aber sie sind auch nicht die absolute Wahrheit. Es gilt, sie richtig einzuordnen. Darum habe ich diesen Beitrag geschrieben. Bei zukünftigen Messungen werde ich darauf verweisen.

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Durch Interesse an IT und Schreiben bin ich schon früh (2000) im Tech-Journalismus gelandet. Mich interessiert, wie man Technik benutzen kann, ohne selbst benutzt zu werden. Meine Freizeit ver(sch)wende ich am liebsten fürs Musikmachen, wo ich mässigesTalent mit übermässiger Begeisterung kompensiere. 


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