Lauf-Coaching: Der Kampf mit dem Gewohnheitstier in mir
Hintergrund

Lauf-Coaching: Der Kampf mit dem Gewohnheitstier in mir

Bilder: Thomas Kunz

Ich wollte ein Barfuss-Training und bekam die nackte Wahrheit: An meinem Körper gibt es mehr Baustellen als auf der A1. Das Hauptproblem sitzt ganz oben. Im Detail an ihnen zu arbeiten, fordert vor allem den Kopf.

Ich weiss nicht, ob ich nun wie Gollum, der Glöckner von Notre Dame oder kerzengerade wie ein Schweizergardist dastehe. Ist mein Hals aufrecht, der Rippenbogen entspannt nach hinten unten eingedreht und das Knie gerade über dem zweiten Zeh? Die Herausforderung, die vor mir liegt, ist überschaubar: zwei Treppenstufen erklimmen. Statt meine in knapp 40 Jahren eingeschliffenen Bewegungsmuster abzuspulen, soll ich es diesmal richtig machen. Ein kleiner Schritt für mich, ein grosser für mein Gehirn.

Zwei kleine Stufen, ein grosses Problem: Ich muss sie entgegen meiner Gewohnheiten gehen.
Zwei kleine Stufen, ein grosses Problem: Ich muss sie entgegen meiner Gewohnheiten gehen.

«Das ist, als ob du die Autobahn verlässt und jetzt einen Feldweg befährst», sagt die Bewegungstherapeutin Veronika Wanner. Nichts ist selbstverständlich, es geht langsam und holprig voran. Noch dazu fühle mich nicht wie ein Auto, denn automatisch geht gar nichts. Eher wie ein schlecht programmierter Roboter. Veronika hilft mir dabei, Hardware und Software in Einklang zu bringen. Sie navigiert mich durch jede noch so kleine Bewegung.

Mein erstes Problem kann jeder erkennen, der mir kurz auf die Beine guckt. Statt gerader Stelzen finden sich bei mir gebogene Schienbeine, die irgendwie unglücklich an die Knie montiert zu sein scheinen. Darüber Oberschenkel, die sich verschämt abwenden und in eine andere Richtung orientieren. Ein Bildhauer im ersten Lehrjahr bekommt das besser hin.

Oh, oh... meine Beine.
Oh, oh... meine Beine.

Zeigen die Knie geradeaus, stehen die Füsse im rechten Winkel. Stelle ich sie parallel, gucken die Kniescheiben nach innen. Ich habe mehr als O-Beine. Mit etwas Fantasie kannst du das halbe Alphabet darin erkennen. Danke, Gene. Danke, Fussball. Statt wie einst der geniale Garrincha trotz schräger Anatomie den Gegnern Knoten in die Beine zu spielen, wurde ich zum Büroarbeiter, der sich acht Stunden am Tag über die Tastatur beugt. Rundrücken und Hohlkreuz lassen grüssen.

«Ich sehe selten gut koordinierte Leute», tröstet mich Veronika. «Kleine Kinder haben meistens eine sehr schöne Aufrichtung und es gibt ein paar Glückspilze, die nichts verlernt haben.» Alle anderen wirft das Leben irgendwann aus der Bahn.

Wir treffen uns auf dem Vereinsgelände des FC Oberwinterthur, um mit der Inventur meines Körpers zu beginnen. Ich bin nicht so naiv zu glauben, dass es bei mir nur um einen Knick-Senk-Spreizfuss und die Frage geht, wie ich das letzte Prozent Leistung aus meinen Bewegungsmustern kitzeln kann. Weiter so ist keine Option. Der Zahn der Zeit nagt, ich muss etwas ändern. Der schiefe Turm von Pisa wäre ohne Sanierungsarbeiten längst umgefallen.

Tut nicht so weh wie es aussieht

«Hast du Schmerzen oder Probleme?», fragt Veronika zum Auftakt und macht sich Notizen. Ich zähle die mir bekannten Baustellen auf und denke vor allem an meine Knie. Dieses anatomisch geniale Dreh-Scharnier-Gelenk muss im Laufe des Lebens bei uns allen einiges aushalten und absurderweise tut es das bei mir noch relativ klaglos. Gelegentlich schmerzt das rechte nach längeren Läufen oder wenn es steil bergab geht. Ansonsten reissen die Kreuzbänder und klemmen die Menisken mit schöner Regelmässigkeit in den wunderbar geraden Beinen meiner Bekannten, nicht bei mir.

Fragestunde vor der Praxis.
Fragestunde vor der Praxis.

Seit einiger Zeit experimentiere ich mit Barfussschuhen und habe das Gefühl, dass meine Knie positiv reagieren. Veronika habe ich kontaktiert, weil sie selbst ähnliche Beschwerden in den Griff bekommen hat und beruflich anderen dabei hilft, den Körper anatomisch sinnvoll zu sortieren.

  • Hintergrund

    «Ich habe gelernt, dass sich Laufen richtig toll anfühlen kann»

    von Michael Restin

Baustelle Beinachse

«Geh bitte ein paar Schritte», sagt Veronika. Links, rechts, links, rechts, links, rechts. Läuft doch. Ich gebe mein Bestes, drehe mich um und blicke in marianengrabentiefe Sorgenfalten. «Wie sage ich es ihm?», scheint die Therapeutin zu denken, bevor sie mich ein paar Treppenstufen laufen lässt und zum lockeren Joggen auf den Kunstrasen schickt. Hin und her, schön der Linie entlang.

Ein Schatten meiner selbst.
Ein Schatten meiner selbst.

Während ich nur auf Füsse und Knie achte, hat Veronika mein komplettes Bewegungsmuster analysiert: «Das Auffälligste ist, dass deine Beinachse nicht gerade ist und dass dein Knie bei Belastung nach innen wegdreht», setzt die Expertin beim Offensichtlichen an. Doch sie ist noch längst nicht fertig: «Wenn du ins Laufen gehst, hast du eine Asymmetrie. Deine rechte Schulter geht nach oben und rechts verdreht sich das Becken. Auch da knickt die Beinachse.»

Autsch. Willkommen in der Midlife-Laufkrise. Einen Rollator bitte. Die eigenen körperlichen Unzulänglichkeiten aufgezählt zu bekommen, ist nicht schön. «Worum sollen wir uns kümmern?», fragt Veronika, denn eine Stunde Coaching reicht natürlich nicht für so viele Baustellen. Fokus auf die Beine? Die Hüfte? Den Rücken? Die Schultern? Oder doch die Füsse? Ich entscheide mich für das komplette Programm im Schnelldurchlauf. Dann weiss ich immerhin, wohin die Reise geht. Sie beginnt mit einem Theraband und einer Bank.

Mit Hilfe der Hände bringen wir die Beinachse in die Spur.
Mit Hilfe der Hände bringen wir die Beinachse in die Spur.

Wir stellen den linken Fuss hoch und schieben das Knie vor und zurück. «Die Kniescheibe sollte sich genau über den zweiten Zeh bewegen», sagt Veronika. «Wenn die Knie nach innen gehen, ist das meist ein Zeichen für zu wenig Aktivität im Beckenboden und in den Aussenrotatoren.» Theoretisch ist klar, was ich dagegen tun muss. Für mich ist das aber schwierig. Wenn mein Fuss gerade steht, weicht das Knie nach innen aus. Der Unterschenkel hat die Tendenz, nach aussen zu rotieren. «Du kannst mit den Händen Wade und Oberschenkel greifen und die Bewegung unterstützen», zeigt mir die Therapeutin.

Tipp zur Selbstkontrolle: Setze dich vor den Spiegel auf einen Stuhl. Die Füsse stehen parallel und gerade. Der zweite Zeh zeigt nach vorne, das Knie ist in einer Linie mit ihm oberhalb des Sprunggelenks. Wenn du aufstehst, sollten die Knie in Position bleiben und nicht ausweichen.

Fesselndes Feintuning

Um den gleichen Effekt im Gehen und Stehen zu erzielen, bastelt Veronika aus dem Theraband eine Bandage. Es wird um den Fuss gewickelt und dann von aussen um den Unterschenkel geführt, damit dieser etwas nach innen rotiert. Die nächste Windung drückt den Oberschenkel nach aussen, bevor das Band um die Hüfte gewickelt im Hosenbund verschwindet.

Veronika zeigt mir die richtige Technik.
Veronika zeigt mir die richtige Technik.

Beim Gehen den Oberschenkel nach aussen und den Unterschenkel nach innen zu rotieren, fühlt sich falsch an und wäre doch richtig. Bei jedem Schritt, jeder Stufe, muss ich mich konzentrieren und Veronikas Feedback entsprechend korrigieren. Sie ist Sportwissenschaftlerin mit der Spezialisierung Prävention und Rehabilitation, hat aber erst nach Weiterbildungen in der Spiraldynamik gefunden, was ihr persönlich gefehlt hatte: Ein klares Konzept.

Eine Gebrauchsanweisung für anatomisch intelligente Bewegungen. Diese enthalten in der Regel eine spiralförmige Komponente – etwa, wenn sich die Wirbelsäule beim Laufen abwechselnd nach links und rechts dreht. Daher der Name. «Es ist eine extrem differenzierte Herangehensweise», findet Veronika. «Für viele ist sie erstmal sehr schwierig, weil sie ein hohes Mass an Körperwahrnehmung erfordert.»

Das gewickelte Theraband unterstützt mein Bein bei der ungewohnten Bewegung.
Das gewickelte Theraband unterstützt mein Bein bei der ungewohnten Bewegung.

Mir leuchtet der Ansatz ein. Auch weil er das Hirn zum Mitmachen zwingt. Erste Erkenntnis: Kleine Korrekturen, um das grosse Ganze in Einklang zu bringen, können anstrengend sein. Vor allem für den Kopf, der gegen die automatisierten Bewegungsmuster ankämpfen muss. Das klappt, wenn ich mich auf eine Sache konzentriere. Ein Ausfallschritt, eine Treppenstufe. Von der Bank aufstehen. Ein paar Schritte geradeaus gehen. Sobald sich das Tempo erhöht, wird es kompliziert.

Ich wickle das Theraband ab. «Wie geht es jetzt?», will Veronika bei den nächsten Schritten wissen. Leichter als zu Beginn, die Gedankenstütze aus Gummi hat ihren Zweck erfüllt und wirkt nach. Trotzdem schüttle ich nicht nur einmal den Kopf über mich selbst. «Am Anfang fühlst du dich wie der letzte Bewegungsdepp», sagt Veronika. Das kann ich bestätigen. «Wenn du eine Sache auf die Reihe bekommst, gehen andere Bewegungen wieder vergessen. Das wird mit der Zeit aber besser und die neuen Bewegungsmuster automatisieren sich.»

Baustelle Wirbelsäule

Sieben Halswirbel, zwölf Brustwirbel und fünf Lendenwirbel, kunstvoll gedämpft und beweglich organisiert, hat uns die Natur spendiert. Veronika hat ein Modell mitgebracht und zeigt mir, wodurch ich sie ungünstig belaste. «Du weisst, dass du ins Hohlkreuz gehst und einen Rundrücken hast», sagt sie, und biegt, um das Problem zu veranschaulichen, die Kunststoffwirbelsäule in ihren Händen zurecht. Die natürliche Doppel-S-Form bekommt zwei übertriebene Wölbungen. Die eine kompensiert die andere. Das ist nicht gut, ich bin mir des Problems bewusst und ihm bislang mit Dehnung, Kräftigung, verschiedenen Haltungstrainern und bescheidenem Erfolg begegnet.

Ist das mein Ersatzteil? Bitte einbauen!
Ist das mein Ersatzteil? Bitte einbauen!

«Du hast die Beweglichkeit, um die Lendenwirbelsäule aufzurichten – das ist schon mal positiv», stellt Veronika fest, die das Modell beiseite gelegt hat und mich neu positioniert. Es geht, wenn ich daran denke. Bislang hatte ich gedacht, dass das für meine gesamte Haltung gilt. Steissbein nach unten ziehen, Schulterblätter zusammen, Kinn zurück, dann stimmt alles. Falsch gedacht. «Die Schulterblätter zusammenzuziehen ist nicht das, was wir eigentlich haben wollen», erklärt Veronika. «Wichtig ist, dass die unteren Rippen mitkommen und der Brustkorb auffächert.»

Tipp zur Selbstkontrolle: Stelle dich mit dem Rücken an einen Pfosten oder Türrahmen und richte dich auf. Die Lendenwirbelsäule sollte ein bis zwei Finger breit Abstand haben, der Kontaktpunkt der Brustwirbelsäule relativ weit unten sein. Im Idealfall ruht der Hinterkopf entspannt an der Kontrolllinie.

Den Brustkorb auffächern? Für mich ist das eine fast unmögliche Bewegung. Mein Körper hat sich ein paar bequeme Alternativen zurechtgelegt, für die ich mit Verspannungen bezahle. «Das Thema untere Rippen ist enorm wichtig bei Schulter- und Rückenbeschwerden und das Bewusstsein dafür ist selten vorhanden», sagt Veronika. Während sie die Position meiner Rippenbögen moniert und mit sanftem Druck korrigiert, wächst die Erkenntnis: Ich habe zu spüren verlernt, wie sich die ideale Haltung anfühlt.

Verloren im Raum

«Jetzt stehst du gerade», sagt Veronika schliesslich. Ich denke gleichzeitig: Es fühlt sich schräg an, aufrecht zu stehen. Bei den ersten Übungen konnte ich auf meine Knie gucken, nun fehlt mir die optische Referenz. Und die zwei Stufen werden endgültig zum koordinativen Hindernis. Unterschenkel eindrehen, Oberschenkel nach aussen rotieren, Steissbein absenken, Rippenbogen rein, Halswirbelsäule – halt – wie war das mit der Haltung?

Veronika richtet mich Wirbel für Wirbel auf.
Veronika richtet mich Wirbel für Wirbel auf.

Ich versuche, Veronikas Anweisungen umzusetzen, und stakse die Stufen rauf und runter. Verloren im Raum, nehme ich mir alle Zeit der Welt. Rauf und wieder runter. Runter und wieder rauf. Mal gibt es Lob für Änderungen, die ich kaum wahrnehme, mal klare Korrekturen. Becken gerade. Und vor allem: Mehr Rotation in der Brustwirbelsäule.

«Diese Rotationsfähigkeit ist bei den allermeisten Leuten verloren», sagt Veronika. Ich gleiche den Mangel unbewusst an anderer Stelle aus, weshalb sie fordert: «Die unteren Rippen sollten drinbleiben, dann blockiert es dir automatisch die Überbeweglichkeit im Übergang von Lenden- und Brustwirbelsäule.» Es sind kleine einleuchtende Details, deren grosse Wirkung ich in der Gesamtheit noch nicht spüren kann. Mein Kopf ist absorbiert, jeweils auf einen Körperteil konzentriert.

Ein Schritt in die richtige Richtung

Zum Abschluss schickt mich Veronika wieder auf den Kunstrasen. Beim Joggen versuche ich gar nicht erst, an alles zu denken. Ich bin lockerer. Die Anspannung, alles gleichzeitig richtig machen zu wollen, fällt ab. Und siehe da: Manche neu erlernten Bewegungsmuster scheint sich mein Körper gemerkt zu haben. Ich achte auf die Rotation und fühle mich Schritt für Schritt in die neue Haltung hinein. «Das fand ich bei dir total spannend zu beobachten», sagt Veronika hinterher. «Die Asymmetrie, die du im Becken, der Schulter und der Armbewegung hattest, ist wesentlich kleiner geworden, sobald du die Brustkorb-Rotation mitnimmst und dein Becken aufrichtest.»

Ich werde versuchen, mir Veronikas Inputs zur Gewohnheit zu machen.
Ich werde versuchen, mir Veronikas Inputs zur Gewohnheit zu machen.

Von Veronikas Aha-Erlebnis des beschwerdefreien Laufens, einem anderen Körpergefühl, bin ich nach einer Stunde natürlich meilenweit entfernt. Trotzdem ist mir ein Licht aufgegangen. Der Körper ist ein komplexes Puzzle. Jahrelang habe ich die Teile unpassend zusammengefügt. Oberflächlich betrachtet, war das Gesamtbild einigermassen stimmig. Erst der Blick auf die Details zeigt, wo es überall hakt. Mir hat das Coaching geholfen, die Zusammenhänge zu verstehen und einzelne Probleme anzugehen. Ich weiss nicht, ob mich dieser Weg ans Ziel bringt. Aber die Richtung stimmt.

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Sportwissenschaftler, Hochleistungspapi und Homeofficer im Dienste Ihrer Majestät der Schildkröte.


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