Martin Suter on Set: Filmdreh gegen Wolken
Hintergrund

Martin Suter on Set: Filmdreh gegen Wolken

Luca Fontana
15.7.2020

Martin Suter, Schweizer Bestsellerautor, bekommt seine erste abendfüllende Kino-Doku. Am Set wird klar: Ein Filmdreh kann von einer einzigen Wolke ruiniert werden.

Martin Suter ist Schriftsteller. Nicht irgendeiner. Sondern einer der meistgelesenen deutschsprachigen Schriftsteller. Jetzt entsteht die erste abendfüllende Kinodoku über den Schweizer Bestsellerautor, der auch im Ausland grosses Ansehen geniesst.

Gedreht wird in Oerlikon. Überbauung Beckhammer. Gelbliche 1950er Wohnblöcke wechseln sich mit grosszügigen Grünflächen und alten Bäumen ab. Bieder und herzig zugleich. Suter hat bis zu seinem fünften Lebensjahr hier gewohnt.

Die Beckhammer-Überbauung in ihrer Pracht
Die Beckhammer-Überbauung in ihrer Pracht

Die Szene, die in den Kasten soll, stammt aus dem Roman «Die Zeit, die Zeit». 2012 erschien es im Diogenes-Verlag. Gefilmt wird mit zwei Crews. Eine auf der Strasse, die andere im dreigeschossigen Wohnblock, irgendwo in einer muffigen alten Wohnung im ersten Stock.

Filmgerberei, die Produktionsfirma, hat die Presse eingeladen, das Set zu besuchen. Auch mich. Bewaffnet mit Stift und Papier. Fragen stellen darf ich keine. Nur Mäuschen spielen.

Das habe ich getan.

Die Filmcrew und die Regenwolken

«Wir haben zwei Möglichkeiten.»

Eine Frau, etwa 30-jährig. Vielleicht Ende 20. Ihre langen, braunen Haare sind hochgesteckt. In der Stimme schwingt Hektik mit. Schrill ist sie aber nicht. Die Kleidung sitzt locker. Olivgrünes T-Shirt auf schwarze Jeans. Die Schuhe sehen bequem aus. Turnschuhe. Ausgelatscht. Typisch für jemanden, der viel auf den Beinen ist. Die Kamera-Assistentin?

«Wir können die Kamera hier platzieren, im Garten, oder auch dort drüben, auf dem Balkon.»

«Versuchen wir’s dort drüben», antwortet ein Mann mittleren Alters. Eine rot karierte Kappe versteckt seine Glatze. Dazu ein schwarzes, löchriges T-Shirt. Arbeitskleidung. Er sieht schmächtig aus. Aber das grosse Dreibein-Stativ packt er mit einer Leichtigkeit, die mehr Kraft vermuten lässt als von blossem Auge zu sehen ist. Dicht hinter ihm schlurft ein etwa 20-Jähriger, die schwere Filmkamera auf seinen Schultern tragend. Seine Hosen sind kurz und verschlissen. Er murmelt irgendetwas, das niemand gehört oder verstanden hat.

Der Kameramann und seine Helfer
Der Kameramann und seine Helfer

Ein Knacken. Es kommt von einem Funkgerät. Alle Mitglieder der etwa zehnköpfigen Filmcrew tragen eines am Hosenbund.

«Wie sieht’s da draussen aus», meldet sich eine Männerstimme aus dem Funkgerät, «schieben sich in den nächsten paar Minuten Wolken vor die Sonne?»

Das könnte jemand gewesen sein, der für die Belichtung in der miefigen Wohnung zuständig ist, in der die andere Crew dreht. Je nach Lichteinfall ändert sich die gesamte Szenerie. Das ist schlecht für einen Film, bei dem jede Einstellung wie aus einem Guss wirken soll.

Die Frau mit den bequemen Schuhen blickt zum Himmel, runzelt besorgt die Stirn, nimmt das Funkgerät in die Hand und spricht hinein.

«Du, wir könnten bald ein ganz anderes Problem haben.»

Pause.

«Regen.»

Eine abendfüllende Doku wird gedreht

«Wir müssen uns beeilen. Verdammt. Das hat die App heute Morgen noch nicht angezeigt.»

Die Turnschuhfrau sagt das mehr zu sich selber als zur Filmcrew. Immer wieder schaut sie auf ihr Handy. Prüft die Wetter-App. Blickt erneut kritisch in den Himmel. Versucht, die herannahende Regenwolke wegzustarren. Irgendwo im Hintergrund bessern Handwerker letzte Details auf einer Terrasse aus. Etwas geht zu Bruch. Einer flucht.

Die Terrasse – sie befindet sich auf der gegenüberliegenden Seite des Wohnblocks – gehört zur Romanfigur Knupps aus «Die Zeit, die Zeit». Knupp glaubt an die Lehre der Gravimotion. Gravimotion leugnet die Existenz von Zeit. Alles, was es gibt, sei Veränderung. Und Veränderung schafft die Illusion von Zeit.

Im Buch wollen das Knupp und sein Nachbar Taler – Taler ist die eigentliche Hauptfigur – beweisen. Und zwar, in dem sie die gesamte Umgebung exakt so arrangieren, wie sie auf Fotos aus einem ganz bestimmten Tag im Jahr 1991 abgebildet ist. Geht das Experiment auf, dann würden die beiden Männer der Geschichte einen anderen Verlauf geben – und ihre verstorbenen Ehefrauen zurück ins Leben holen.

Während die Aussen-Crew die Kamera auf der Strasse einrichtet, nähert sich ein Mann mit Hosen aus edlem Stoff und einem schwarzem Sakko. Oder ist es Mitternachtsblau? Die goldene Krawatte passt perfekt. Die Schuhe sehen teuer aus. Seine mittellangen, rabenschwarzen Haare sind nach hinten gekämmt. Die dunkle Sonnenbrille verbirgt seine Augen, hat aber Stil. Dann nimmt der Mann sie ab. Enthüllt sein Gesicht.

Martin Suter.

Martin Suter betritt das Set

Die Geschichte, die die Schriftsteller-Doku erzählt, ist Martin Suters. Trotzdem werden Szenen aus Suters Romanen inszeniert. Suter spaziert in sie hinein, erzählt was auch immer er über sich, übers Buch oder über das Leben selbst zu erzählen hat. Dann folgt die nächste verfilmte Szene, in die er reinspaziert.

Auf dem Beckhammer-Filmset soll der Bestsellerautor just in jenem Moment der Strasse entlang laufen, in der ein misstrauischer Taler aus seinem Fenster rüber zu Knupps Terrasse schaut.

Einfache Sache? Mitnichten.

Talers Schauspieler beäugt das Treiben in der Beckhammer.
Talers Schauspieler beäugt das Treiben in der Beckhammer.

Zuerst die Probe. Suter geht über die Strasse. Keine Kamera läuft. Aber sein Laufweg wird auf den Millimeter genau geprüft. Suter geht nochmal über die Strasse. Eine leichte Korrektur. Ein neuer Anlauf. Dann nochmals.

«Das Licht ist zu hart.»

Der glatzköpfige Kameramann instruiert den jungen Mann mit verschlissener Hose, einen Holzrahmen zu holen und mit einem Tuch zu bespannen. Nickend macht er sich auf den Weg.

«Herr Suter? Bitte einen Schritt zurück. Ja. Genau so. Nein, stopp. Etwas vor. Jetzt nach links. Perfekt. Marke, bitte!»

Die Turnschuhfrau nimmt zwei knallig pinke Klebestreifen und klebt sie T-förmig zu einer Marke zusammen. Dann platziert sie sie da, wo Suters Lackschuhe sind. Auf einmal sind sie im Mittelpunkt. Es gibt gerade nichts aufregenderes als Martin Suters Lackschuhe.

Positionsmarken, das A und O im Filmbusiness
Positionsmarken, das A und O im Filmbusiness

Der junge Gehilfe ist wieder da. In Händen ein grosser Holzrahmen. Darüber ein weisses Tuch. Es soll keinen Schatten spenden. Es soll difussieren, also das Problem des harten Lichts lösen. Im Fachjargon wird das Konstrukt «Softbox» genannt. Während der Kameramann durch die Linse lugt und Anweisungen gibt – vielleicht ist er Kameramann und Regieassistent in einem –, montiert der Gehilfe den Rahmen auf ein Stativ.

Das Stativ, das die Turnschuhfrau kurz zuvor noch mit den Worten «kann mal jemand dieses Ding da wegpacken!?» bedacht hat.

Not macht erfinderisch.
Not macht erfinderisch.

Der Diffusor Marke Eigenbau ist in Position, etwa zwei Meter über den Boden. Der Dreh kann weiter gehen. Oder beginnen.

«So. Kamera läuft. Und Action!»

Suter macht einen Schritt.

«Cut!»

Ein Anwohner will in seinem Auto auf die Beckhammer einbiegen. Er stört das Bild. Aber die Crew macht Platz und lässt ihn durch.

«Okay. Nochmals. Alles in Position. Kamera läuft. Und…»

«Halt, stopp!»

Das war der Regisseur von der anderen Strassenseite aus. Dass er bisher nicht aufgefallen ist, liegt nicht an seiner Statur. Er ist gross, breit und bullig. Die sonore Stimme kräftig und bestimmend. Sein Blick starr auf ein Monitor gerichtet. Der bildet das ab, was der Kameramann durch seine Linse sieht. Das Problem: Die Wolken, die eben noch die Sonne verdeckt haben, haben sich verzogen.

Die Turnschuhfrau jubelt innerlich. Bestimmt tut sie das. Der Kameramann aber flucht. Fünf Minuten vergehen. Dann zehn. Nichts passiert. Nur warten. Von Regen ist längst keine Rede mehr.

Der Regisseur (mitte), die Turnschuhfrau (rechts) und sein Star (links)
Der Regisseur (mitte), die Turnschuhfrau (rechts) und sein Star (links)

Plötzlich ist das Licht wieder weg.

«Jungs, geht’s da draussen endlich weiter», knackt es fragend aus einem Funkgerät.

In der Wohnung steht Schauspieler-Taler seit einer gefühlten Ewigkeit am Fenster. Aber dunkle Wolken haben sich erneut vor die Sonne geschoben. Ein Handwerker schwört gar, vereinzelt Regentropfen zu spüren. Das alles dauert viel zu lange. Die Nervosität steigt. Die Turnschuhfrau blickt wieder auf ihr Handy.

Der Bestsellerautor aber steht stoisch da. Macht keinen Wank. Die Ruhe in Person. Falls er sich ärgert, lässt er sich nichts anmerken.

Unerschütterlich. Wie ein Fels in der Brandung.
Unerschütterlich. Wie ein Fels in der Brandung.

«Wollen wir Herr Suter einen Regenschirm besorgen? Komm, ich hol ihm doch einen schwarzen Regenschirm», sagt die Turnschuhfrau. Der Kameramann bemerkt sie nicht. Hat keine Geduld mehr.

«Wir machen weiter. Alle in Position? Gut. Kamera läuft. Und Action!»

Martin Suter macht seine Schritte. Bedächtig. Nach etwa zwei Metern blickt er über seine rechte Schulter hoch zu Taler und läuft noch einen weiteren Meter.

«Und Cut! Perfekt. Danke, Herr Suter. Die Szene ist im Kasten.»

Der Dreh ist Filmemacherei in Reinform. Martin Suter muss drei Meter Strasse laufen. Im fertigen Film eine etwa zwei Sekündige Szene. Dutzende Crewmitglieder, eine Turnschuhfrau, ein Kameramann, ein Regisseur und ein Schweizer Star sind in ihrer Entstehung involviert. Reine Drehzeit: Etwa eine Stunde.

Suter lächelt. Zufrieden. Dreht sich zur Crew um. Dann zieht er die Sonnenbrille aus der Tasche. Setzt sie auf. Sein Mund öffnet sich. Er sagt was. Endlich sagt er was. Seine Stimme ist ruhig. Schnörkellos. Und der Schalk kommt genauso rüber, wie er es beabsichtigt hat.

«Habe ich das nicht gut gemacht?»


«Martin Suter – Der Mann hinter den Geschichten», so der Titel des Kino-Dokumentarfilms, entsteht unter der Regie André Schäfers. Schäfer selbst ist ein deutscher Dokumentarfilm-Regisseur, bekannt für Werke wie das 2014er «Deutschboden» und das 2007er «Herr von Bohlen privat».

Die Doku wird ab Herbst 2021 im Kino zu sehen sein.

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Abenteuer in der Natur zu erleben und mit Sport an meine Grenzen zu gehen, bis der eigene Puls zum Beat wird — das ist meine Komfortzone. Zum Ausgleich geniesse ich auch die ruhigen Momente mit einem guten Buch über gefährliche Intrigen und finstere Königsmörder. Manchmal schwärme ich für Filmmusik, minutenlang. Hängt wohl mit meiner ausgeprägten Leidenschaft fürs Kino zusammen. Was ich immer schon sagen wollte: «Ich bin Groot.» 


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