MIPS vs. WaveCel: Wer schützt bei Stürzen besser?
Hintergrund

MIPS vs. WaveCel: Wer schützt bei Stürzen besser?

Die Technologien MIPS und WaveCel stecken in Sturzhelmen. Beide versprechen mehr Schutz beim Aufprall, indem sie Rotationskräfte absorbieren. Eine aktuelle Studie vergleicht die Konkurrenten, die schon öffentlich aneinander geraten sind.

«Falsch!» Das ist, kurz gefasst, der Vorwurf des Statements, welches die Chefetage von MIPS im März 2019 in Richtung WaveCel schickt. Was war passiert? WaveCel hatte zusammen mit dem Hersteller Bontrager Velohelme auf den Markt gebracht, die Gehirnerschütterungen «bis zu 48 Mal effektiver verhindern» sollten als ein normales Modell. Das Restrisiko würde damit auf 1,2 Prozent sinken, jubelte der Newcomer. Spektakuläre Zahlen, die vor allem einen vor den Kopf stossen: Den Marktführer MIPS. Ein Unternehmen aus Schweden, dessen Technologie auf den gleichen Effekt abzielt. Dr. Peter Halldin und der Gehirnchirurg Dr. Hans von Holst hatten bereits Mitte der 90er Jahre damit begonnen, ihr inzwischen sehr bekanntes System zu entwickeln. Die Grundidee ist, dass sich eine bewegliche Schale im Inneren des Helms 10 bis 15 mm in alle Richtungen bewegen kann. Sie verschiebt sich bei einem Sturz und verringert die Rotationskräfte. So sieht das aus.

Aus ihrer Erfahrung und eigenen Labortests wussten Halldin und Holst, dass eine allgemeine Aussage wie «das Risiko einer Gehirnerschütterung sinkt auf 1,2 Prozent» kaum haltbar ist. Stürze sind verschieden. Menschen sind verschieden. Was sich messen lässt, sind die auftretenden Kräfte und die Rotationsbewegung unter Laborbedingungen. Je weniger auf den Kopf einwirkt, desto besser. Und in eigenen Tests konnten sie die Zahlen von WaveCel nicht nachvollziehen. Daher der offene Brief, der sich wie eine Ohrfeige liest. Die beiden Kontrahenten wollen ihr Ziel, das Gehirn zu schützen, auf unterschiedlichen Wegen erreichen. MIPS setzt auf gegeneinander verschiebbare Schalen, WaveCel auf eine Wabenstruktur. Die Waben komprimieren und verschieben sich beim Aufprall, um die Energie vom Kopf wegzuführen.

Wenn es um Schutzausrüstung geht, treffen Innovationen auf Normen, die diese Innovationen bei ihren Tests manchmal gar nicht berücksichtigen. Rotationskräfte spielen beim standardisierten Sturztest für Velohelme zum Beispiel keine Rolle. Wenn es aber keinen Standard gibt, ist es mit der Vergleichbarkeit nicht weit her und jeder Hersteller kann sich mit eindrücklichen Zahlen aus eigenen Studien schmücken.

Dass MIPS etwas bringt, darf als gesichert gelten. Die Beratungsstelle für Unfallverhütung empfiehlt: «Wenn Sie einen passenden Helm gefunden haben und dieser mit und ohne MIPS angeboten wird, wählen Sie vorzugsweise die Version mit MIPS.» In dieser Reihenfolge. Erst muss der Helm passen und hochwertig sein. Dann kommt der Bonusschutz. Wie aber schneidet WaveCel im Vergleich mit MIPS ab? Eine aktuelle Studie hat das nun anhand von Skihelmen untersucht.

MIPS vs. WaveCel

Anfangs standen vor allem Velohelme im Fokus, inzwischen ist zumindest MIPS auch in Wintersporthelmen weit verbreitet. WaveCel hat gemeinsam mit Anon erste Modelle auf den Markt gebracht. In der Studie, durchgeführt am Legacy Biomechanics Laboratory in Portland, wurden die Modelle Smith Maze, Smith Maze MIPS und Anon Logan verglichen. Die Autoren beziffern darin, wie wahrscheinlich bei den standardisierten Stürzen auf eine schräge Fläche eine Gehirnerschütterung die Folge gewesen wäre, wenn kein Dummy voller Messtechnik, sondern ein menschlicher Kopf in den Helmen stecken würde.

MIPS wird von vielen verschiedenen Herstellern eingesetzt.
MIPS wird von vielen verschiedenen Herstellern eingesetzt.

Die Stürze wurden in zwei Geschwindigkeiten durchgeführt und es wurden verschiedene Aufprallszenarien simuliert. Während die Resultate bei frontalen und seitlichen Stürzen nicht extrem weit auseinandergehen, sind die Unterschiede beim Aufprall auf den Hinterkopf spektakulär. Diese Variante war generell die gefährlichste. Bei einer Sturzgeschwindigkeit von 6,2 Metern pro Sekunde, was gut 22 km/h entspricht, ist die Wahrscheinlichkeit einer Gehirnerschütterung demnach folgendermassen:

  • Smith Maze: 89 ± 4 %
  • Smith Maze MIPS: 67 ± 14 % (p=0.055)
  • Anon Logan/WaveCel: 7 ± 2 % (p<0.001)

Hier schneidet WaveCel sehr viel besser ab als das MIPS-Modell. Das Risiko einer Gehirnerschütterung ist im direkten Vergleich extrem niedrig und das gute Ergebnis hochsignifikant. Viel klarer kann ein Punktsieg nicht sein. Natürlich lässt sich das System nicht losgelöst vom Helm betrachten, in dem es steckt. Mit MIPS ist das Risiko gegenüber dem baugleichen Helm ohne den zusätzlichen Schutzmechanismus um 22 Prozent niedriger. Bei WaveCel gibt es diese Vergleichsgrösse nicht. Aber die Waben scheinen in diesem speziellen Fall einen extrem guten Job zu machen.

Beide Systeme reduzieren das Risiko deutlich

Wie stark die Rotationskräfte im Vergleich zum Standardhelm reduziert werden, hängt immer von der Art des Sturzes ab. Auch insgesamt schafft WaveCel in dieser Studie das bessere Ergebnis, was aufgrund des einen Ausreissers nicht verwunderlich ist. Die Reduktion beträgt bei WaveCel 29 bis 66 Prozent. Das MIPS-Modell kommt auf 11 bis 66 Prozent. Die Autoren halten fest: Beide Systeme reduzieren das Risiko einer Gehirnerschütterung deutlich. Beim frontalen Aufprall kommt der WaveCel, wie auch schon in einer vorangegangenen Studie mit Velohelmen, sogar an das magische eine Prozent Restrisiko heran, mit dem anfangs so offensiv geworben wurde, dass es den MIPS-Machern Kopfschmerzen bereitete. In diesem Szenario hat MIPS aber ähnlich gute Werte.

Sicher ist: WaveCel funktioniert und ist ein ernstzunehmender Konkurrent, der in dieser Studie den Marktführer schlägt. Die wabenförmige Knautschzone hat gleichzeitig auch dämpfende Eigenschaften, die MIPS konstruktionsbedingt nicht bieten kann. Trotzdem heisst das nicht, das WaveCel generell die bessere Wahl ist. Beide Systeme sind Teil eines Produkts. In den Bicycle Helmet Ratings der Virginia Tech University hat das Bontrager/WaveCel-Modell die Führung längst wieder an MIPS-Marken abgegeben. Je nach Helm und Sturz kann die Wirkung eine andere sein. Es gehört also immer auch etwas Glück im Unglück dazu.

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Sportwissenschaftler, Hochleistungspapi und Homeofficer im Dienste Ihrer Majestät der Schildkröte.


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