Schafft Netflix den Serienmarathon ab?
Hintergrund

Schafft Netflix den Serienmarathon ab?

Luca Fontana
28.6.2022

Netflix läuft das Publikum davon. Das sagen aktuelle Quartalszahlen. Jetzt soll der Streaming-Dienst aus Kalifornien über den spektakulärsten Kurswechsel seiner Geschichte nachdenken: der Abkehr vom Binge Watching.

Gerade läuft es nicht rund bei Netflix. Hunderttausende Abonnent:innen hat der Streaming-Pionier im ersten Quartal 2022 bereits verloren. Bis Ende Juni könnten es sogar Millionen sein, sagt Netflix, und bestätigt gleichzeitig, dass der Umsatz weniger schnell wächst als erwartet. Das wiederum führte zu hunderten Entlassungen. Und gemäss einem Bericht des Nachrichtendienstes CNBC stehe sogar ein Tabubruch im Raum, der so spektakulär wie umstritten ist: die Abschaffung des Binge Watching – dem Schauen von mehreren Episoden in einer einzigen «Sitzung».

Natürlich könnte die Kundschaft abwarten, bis alle Episoden einer neuen Staffel erschienen sind, ehe sie beginnt, sie zu binge watchen. Die Veröffentlichung neuer Staffeln und Episoden würde dennoch nur im Wochenrhythmus erfolgen. Ob’s gefällt oder nicht. Ist Netflix ein sinkendes Schiff?

Um den Dampfer auf Kurs zu bringen, zieht Co-CEO Ted Sarandos alle Register. Zuerst bestätigte er ein bald kommendes, neues «Werbe-Abo», das Zuschauende, die gelegentliche Werbeschaltungen in Kauf nehmen, weniger kostet. Dazu wolle das Unternehmen einen Weg finden, Account Sharing zu monetarisieren – was allerdings eher wie ein Akt der Verzweiflung wirkt. Und jetzt winkt vielleicht sogar die Abschaffung von Binge Watching, wie wir es kennen. Es wäre ein spektakulärer Kurswechsel.

Die Macht des Binge Watching

Beliebt machen würde sich Netflix mit der Abschaffung des Serienmarathons garantiert nicht. Netflix hat das Binge Watchen zwar nicht erfunden, aber massgeblich geprägt. 2012 begann das Unternehmen, komplette Staffeln auf einmal zu veröffentlichen. In einer 2013 von Netflix durchgeführten Umfrage gaben bereits 61 Prozent der Zuschauenden an, regelmässig zwei bis sechs Folgen pro Sitzung zu schauen. Die Umfrage ergab auch, dass Binge Watching keine negativen Assoziationen beim Publikum auslöse; für die Mehrheit was das damals schon normal. Für Netflix Grund genug, Binge Watching als «das neue Normal» auszurufen.

Eine 2018 von Netflix veröffentlichten Infografik darüber, wie populär Binge Watching ist.
Eine 2018 von Netflix veröffentlichten Infografik darüber, wie populär Binge Watching ist.
Quelle: Netflix

Das kalifornische Unternehmen erschütterte die lineare TV-Landschaft von Grund auf. Das Publikum konnte endlich selber wählen, wann und wieviele Folgen einer neuen Serie sie schauen wollten. Kein Stundenplan mehr. Keine fixe Programmation. Pure Freiheit.

Netflix, um seinen einzigartigen Marktvorteil wissend, machte sogar einen Sport daraus: «Binge Racing». Binge Racer sind jene, die eine komplette Staffel innert 24 Stunden nach Release schauen. Der Streaming-Dienst sagte dazu: «Binge Racer sind keineswegs Couch-Kartoffeln. Es sind Super-Fans, für welche die Geschwindigkeit des Zuschauens eine Leistung ist, auf die sie stolz sein und mit der sie prahlen können. Fernsehen ist ihre Leidenschaft, und Binge Racing ihre Sportart.» Das ging sogar so weit, dass Co-CEO Reed Hastings sich zu folgender Aussage hinreissen liess: «Eigentlich konkurrieren wir mit Schlaf.»

Die Macht des Wochenrhythmus’

Netflix wuchs – und in dessen Fahrwasser auch die Konkurrenz. Anders als Netflix setzen Prime, Disney, Apple, Sky, HBO und Co. aber nicht auf Binge Watching. Nicht direkt. Sie veröffentlichen ihre Inhalte weiterhin im Wochenrhythmus, wie früher, vor Netflix. Wer will, kann bis zum Ende einer Staffel warten, um sie anschliessend zu binge watchen – und riskiert, über Bekannte oder soziale Medien gespoilert zu werden.

Dass Netflix’ Konkurrenten dennoch beim Wochenrhythmus bleiben, hat einen Grund: So «strecken» sie ihre Inhalte. Das kostet weniger Geld. Schlägt sich auf die Abopreise nieder. Wöchentliche Analysen und Spekulationen von Youtubern und Bloggern über jede einzelne Episode erhöhen den Hype. Und die Gefahr, dass Abos pünktlich zum Monatsende vorzeitig oder vorübergehend gekündigt werden, sinkt. Vor allem, wenn neue Episoden über die Monatsgrenze hinweg veröffentlicht werden. Disneys Veröffentlichungs-Strategie mit seinen beiden Zugpferden «Star Wars» und «Marvel» spricht Bände:

  • Dezember/Januar/Februar: «The Book of Boba Fett»
  • März/April/Mai: «Moon Knight»
  • Mai/Juni: «Obi-Wan Kenobi»
  • Juni/Juli: «Ms. Marvel»
  • August/September/Oktober: «She-Hulk»
  • Oktober/November: «Andor»

Netflix kann das nicht. Sein Publikum kann dessen neue Inhalte deutlich schneller verschlingen. Tut es auch. Und verlangt umgehend nach neuem Futter. Nicht zuletzt, weil sie ansonsten mit dem Gang zur Konkurrenz drohen – die erst noch viel günstiger ist. Will Netflix sein Publikum nicht verlieren, muss es ständig und immer schneller neue Inhalte nachlegen. Das kostet immer mehr Geld. Will Netflix nicht immer nur die Abo-Preise erhöhen – Selbstmord bei so viel Konkurrenz –, kann das nur bedeuten:

Quantität vor Qualität.

Die Auswahl auf Netflix strotzt längst nicht mehr vor Qualität.
Die Auswahl auf Netflix strotzt längst nicht mehr vor Qualität.

«Da ist so viel Schrott auf Netflix. Wirklich coole Sachen finde ich kaum noch. Darum habe ich das Abo gekündigt. Es war mir eh zu teuer.» Kennen wir alle, solche Aussagen von Freunden und Bekannten. Vielleicht sogar von uns selber. Netflix hat mit dem Veröffentlichen ganzer Staffeln auf einmal zwar den Grundstein für seinen durchschlagenden Erfolg gelegt. Mittlerweile droht das Erfolgsrezept aber zur Schlange zu werden, die sich selber in den Schwanz beisst.

Wie geht's weiter mit Netflix?

Noch ist das amerikanische Unternehmen mit seinen 221,6 Millionen registrierten Abos der grösste Streaming-Dienst der Welt. Mit Abstand. Amazon Prime zählt aktuell zwar 200 Millionen Abonnentinnen und Abonnenten, aber «nur» 175 Millionen davon nutzen Prime Video. Auf Platz drei folgt Disney+ mit 137,7 Millionen Abos. Jetzt schon vom drohenden Untergang Netflix’ zu sprechen, wäre also deutlich verfrüht.

Und trotzdem: die Anlegerschaft reagierte zuletzt besorgt. Das zeigt ein Blick auf die Kursentwicklung der Netflix-Aktie: Im Oktober 2021 wurde sie mit 690 Dollar pro Aktie gehandelt. Heute liegt ihr Wert bei etwa 180 Dollar pro Aktie. Vertrauen in eine sichere Zukunft sieht anders aus. Die Lage ist ernst.

Glauben wir dem CNBC-Artikel, könnte Netflix seinen einst wichtigsten Grundpfeiler aufgeben. Mit neuen Veröffentlichungs-Strategien experimentiert Netflix immer wieder. Etwa beim Aufteilen von Staffel-Finalen wie «Haus des Geldes» oder «Ozark». Netflix begründete die Aufteilung damals zwar mit Produktionsschwierigkeiten während der Pandemie. Aber erst kürzlich veröffentlichte der Streaming-Dienst die ganze vierte Staffel von «Stranger Things» im Juni – mit Ausnahme der letzten zwei Episoden. Die erscheinen erst am 1. Juli.

Nach der Monatsgrenze.

Clever.

Es scheint, dass Netflix gar keine andere Wahl bleibt. Nicht, wenn die gesamte Konkurrenz konsequent darauf setzt, neue Inhalte ebenfalls nur häppchenweise zu veröffentlichen. Netflix riskiert mit einem so einschneidenden Kurswechsel zwar einen Shitstorm sondergleichen. Auf lange Sicht könnte sich der kalifornische Streaming-Dienst allerdings wieder darauf konzentrieren, mehr Gewicht auf Qualität zu setzen, wenn er bei gleichem Budget weniger Quantität produzieren müsste. Das wiederum käme auch uns Zuschauenden zu Gute.

Quo vadis, Netflix?

Würdest du auf die Veröffentlichung ganzer Staffeln auf einmal verzichten, wenn dafür die Qualität der Inhalte zunähme?

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Abenteuer in der Natur zu erleben und mit Sport an meine Grenzen zu gehen, bis der eigene Puls zum Beat wird — das ist meine Komfortzone. Zum Ausgleich geniesse ich auch die ruhigen Momente mit einem guten Buch über gefährliche Intrigen und finstere Königsmörder. Manchmal schwärme ich für Filmmusik, minutenlang. Hängt wohl mit meiner ausgeprägten Leidenschaft fürs Kino zusammen. Was ich immer schon sagen wollte: «Ich bin Groot.» 


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