Steingutobjekte mit Stehaufmännchen-Qualitäten
Hintergrund

Steingutobjekte mit Stehaufmännchen-Qualitäten

Pia Seidel
25.5.2022
Bilder: Pia Seidel

Designer Daniel Cavey bringt Schwung ins Küchenregal. Er macht Vorratsdosen aus Steingut, die wackeln, aber nie umfallen sollen.

Stehaufmännchen haben mich schon immer fasziniert, weil sie sich alleine wieder aufrichten. Dabei wissen alle, wie schwer es sein kann, selber die eigene Mitte wiederzufinden. Umso beeindruckter bin ich von den Objekten des Keramikkünstlers Daniel Cavey – besonders von seiner Dose mit Stehaufmännchen-Qualitäten namens «Rocking Jar». Statt aus Holz oder Metall ist sie aus Steingut. Als ich die Stehaufdose an der Möbelmesse «Maison et Objet» entdeckt habe und die Erlaubnis erhielt, sie anzufassen, musste ich sie gleich anstupsen. Vorher konnte ich nicht glauben, dass sie sich wieder fängt. Sie ist Teil einer ganzen Reihe solcher Objekte. Die Serie Blue Footed besteht aus Aufbewahrungslösungen, die entweder mal wackeln wollen oder zu zerschmelzen scheinen.

Der nordamerikanische Designer mit Wohnsitz in Italien wollte bewusst mit Öffnungen statt geschlossenen Formen arbeiten. Weil das ihn in seiner Arbeit und uns als Betrachtende mehr herausfordert und er gerne mal gegen die Norm geht. «Ich will die Grenzen zwischen künstlerischen und funktionalen Stücken hinterfragen und die Wahrnehmung der Betrachtenden bewusst auf die Probe stellen», erzählt er mir später im Interview.

«Rocking Jar» verliert beim Kippeln noch nicht einmal den Deckel.
«Rocking Jar» verliert beim Kippeln noch nicht einmal den Deckel.

Eine Auseinandersetzung mit der Evolutionsbiologie – und Anhängseln

Zum einen sind die Formen inspiriert von animalischen Motiven, Bildern und Symbolen, die in präkolumbianischer, zentral- und südamerikanischer Keramik zu finden sind. Zum anderen hat sich der Designer biologische Prozesse angeschaut. Beispielsweise, wie Zellen zu Gliedmassen werden.

Diesen Vorgang hat er dann in abstrakte Formen übersetzt. «In der präkolumbianischen Keramik war es üblich, einem Alltagsgegenstand Körperteile wie Beine und Füsse einzuverleiben, obwohl diese schnell abbrechen können», erklärt Daniel. «Doch die Nähe zur Natur war so gross, dass man es riskierte. Teilweise gab es Gussformen von einigen Tassen oder Behälter, um zerbrochene Stücke schnell wieder zu ersetzen.»

Daniel Cavey hat Keramik in Maryland studiert und lebt heute in der italienischen Region Emilia-Romagna.
Daniel Cavey hat Keramik in Maryland studiert und lebt heute in der italienischen Region Emilia-Romagna.
Gebrauchsgegenstand, Spielzeug oder kinetische Kunst – bei diesen Werken sind die Grenzen fliessend.
Gebrauchsgegenstand, Spielzeug oder kinetische Kunst – bei diesen Werken sind die Grenzen fliessend.

Daniel hat festgestellt, dass wir in unserer heutigen, europäisch geprägten Kultur anders vorgehen. Ein Gefäss mit Beinchen wird bei uns für den alltäglichen Gebrauch gar nicht erst gekauft. Und wenn doch, steht es im Regal, statt über die Küchenzeile zu stolzieren. «Wir denken Keramik nicht als bewegliche Stücke, weil wir nicht wollen, dass sie zerbrechen.» Das stimmt. Immer wieder rätsele ich, ob das Stehaufgefäss ohne Kugel im Innern nicht doch noch umfällt. Oder ob der Bubble-Behälter namens «Cluster Jar» bei einer falschen Bewegung vom Regal kippt und in tausend Stücke zerspringt.

Auch wenn es so scheint, läuft diese Dose nicht davon. Sie besteht aus standhaftem Steingut.
Auch wenn es so scheint, läuft diese Dose nicht davon. Sie besteht aus standhaftem Steingut.

Doch wie macht man die schönen Stücke eigentlich sauber? «Das kommt darauf an, was du reintust», sagt er und schmunzelt. Mit anderen Worten: Wer will, findet Wege. Es ist wie mit dünnhalsigen Trink- oder Ölflaschen, bei denen ich mit einer Bürste auch nicht überall richtig rankomme. Unterdessen weiss ich mir zu helfen. Für eine gründliche Reinigung meiner Trinkflaschen eignen sich beispielsweise spezielle Tabs.

Der Zauber darin, die Dinge nicht immer zuordnen zu können

Bisher hat es erst ein Kunsthistoriker geschafft, alle Elemente seiner Steingutobjekte zu entziffern. Ich bin froh, dass es mir da anders geht. Ohne konkrete Assoziationen ist's magischer. Die Bubble-Behälter wirken wie aus einer anderen Welt. Oder so, als wären sie einem 3D-Rendering entsprungen. Doch Daniel erklärt mir, dass er sie von Hand zeichnet, dann modelliert und in einem Gasofen mit selbst gebautem Wärmetauschsystem brennt. Der Ton stammt aus Europa. «Ich beziehe mein Material von der deutschen Lehmfirma Witgert sowie Sibelco, ein viel grösseres Unternehmen mit Steinbrüchen im Westerwald und anderswo.» Und den Ofen hat Daniel selber gebaut. «Der Keramiker Rolland Bottani war so nett, mir sein Modell, einen Feller-Ofen, zu zeigen. Eigentlich wurde das Feller-System für Holzöfen entwickelt, aber ich habe den Wärmetauscher und das Lüftungssystem für meinen Gasofen angepasst. Indem die Luft vorgewärmt wird, bevor sie mit dem Brennstoff – in seinem Fall Flüssiggas – im Brenner gemischt wird, ist der Prozess jetzt effizienter und umweltschonender.»

Die Steingutstücke enthalten unter anderem Referenzen zu Stücken aus Zentralamerika. Z.B. in Bezug auf die Grösse der Öffnungen.
Die Steingutstücke enthalten unter anderem Referenzen zu Stücken aus Zentralamerika. Z.B. in Bezug auf die Grösse der Öffnungen.
Die allerersten Zeichnungen für Blue-footed.
Die allerersten Zeichnungen für Blue-footed.

Als ich Daniel frage, ob seine Arbeiten bei allen so gut ankommen wie bei mir, meint er: «Entweder sind die Leute von den Objekten beeindruckt oder sie ekeln sich davor. Viele assoziieren sie mit etwas Sexuellem.» Zugegeben sehe ich schon die Ähnlichkeit der Deckel zu Nippeln. Gleichzeitig sind sie ein Beispiel dafür, meint Daniel, dass auch funktionelle Aspekte das Design beeinflusst haben. Schliesslich hat eine Butterdose oder ein Kochtopf so ähnliche Griffe. «Kategorisieren ist eine menschliche Eigenschaft und ich finde es schön, mich davon zu lösen und mich von Trends fernzuhalten.»

Der einzige Zug, auf den Daniel aufspringt, fährt zurück zur Natur. Er ist fasziniert von Barocker Kunst und den verschiedenen Vorschlägen, die es damals für die Dinge gab. «Heute werden die Formen von der Ökonomie geleitet», meint Daniel. In der Holzverarbeitung entstehe beispielsweise viel weniger Abfall bei der Anfertigung gerader, rechtwinkliger Stücke als bei kurvigen. Mit seinen Entwürfen will er wieder weiche und verspielte Formen nach Hause bringen – ohne dabei die Nachhaltigkeit zu vernachlässigen. Die Leute sollen im Alltag wieder überrascht werden, wenn sie die Dinge benutzen. Das ist bei mir auf jeden Fall gelungen. Seine Steingutbehälter zaubern mir ein Lächeln ins Gesicht und machen Lust auf mehr Designs mit Stehaufmännchen-Charakter.

«Smile»
«Smile»

Was sind das für Menschen, die ständig auf der Suche nach besseren Designlösungen sind? Die einen neuen Stuhl oder Tisch entwerfen, obwohl es die schon zig tausendfach gibt? In dieser Serie stelle ich dir solche Menschen und ihre Leitmotive vor. Folge mir, um den nächsten Beitrag auf dem Schirm zu haben.

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Wie ein Cheerleader befeuere ich gutes Design und bringe dir alles näher, was mit Möbeln und Inneneinrichtung zu tun hat. Regelmässig kuratierte ich einfache und doch raffinierte Interior-Entdeckungen, berichte über Trends und interviewe kreative Köpfe zu ihrer Arbeit. 


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