Spielkritik

«Tchia» im Test: Eine Liebeserklärung an Neukaledonien

«Tchia» spielt sich wie ein entspannter Sommerurlaub auf einer Tropeninsel, der gelegentlich von unnötigem Ferienprogramm unterbrochen wird.

Die Abendsonne verwandelt das Meer in einen orangen Glitzer-Teppich. Zwei Möwen kreisen über mir am Himmel, während ich mit meinem Floss sanft über das türkisblaue Wasser gleite. Obwohl ich mit dem Controller auf meinem Sofa sitze und trist graues Wetter an den Fenstern vorbeizieht, kann ich den frischen Fahrtwind und die warmen Sonnenstrahlen beinahe auf meinem Gesicht spüren. Fehlt nur noch die Kokosnuss mit Strohhalm. «Tchia» weckt echte Feriengefühle in mir. Und genau wie in den Ferien gibt es meistens jemanden, der sich nicht einfach entspannt zurücklehnen kann und «lustiges» Rahmenprogramm organisieren muss. Zum Glück bleibt das im Spiel die Ausnahme.

Ferien auf Neukaledonien

«Tchia» ist ein Openworld-Spiel, in dem ich das gleichnamige junge Mädchen auf ihren Abenteuern auf einer malerischen Südseeinsel begleite. Das Game ist durch und durch von Neukaledonien inspiriert. Das lässt sich bereits an der Form der Inselgruppe ablesen. Bevor du Google Maps öffnest, Neukaledonien liegt östlich von Australien und nördlich von Neuseeland. Der Bezug zur kleinen französischen Überseegemeinschaft findet sich bei den Gründern des Entwickler-Studios Awaceb. Phil Crifo und Thierry Boura stammen aus Neukaledonien, auch wenn sie mit ihrem Studio mittlerweile in Bordeaux angesiedelt sind. Awaceb ist lokaler Slang und bedeutet «alles ist gut» oder «mach dir keine Sorgen». Damit lässt sich auch «Tchia» ziemlich gut beschreiben.

Das Floss kann im Verlauf des Spiels mit neuen Segeln und Fahnen bestückt werden.
Das Floss kann im Verlauf des Spiels mit neuen Segeln und Fahnen bestückt werden.
Quelle: Awaceb

«Tchia» ist ein entspanntes Entdeckerspiel. Ich kann mich auf der Inselgruppe frei bewegen. Ich kann segeln, klettern, tauchen, mit einem Tuch durch die Luft schweben und sogar in die Körper von Tieren schlüpfen. Die Welt ist ein wahr gewordener Südseetraum. Kristallklares Wasser mit bunten Korallen, weisse Sandstrände, hochragende Felsformationen, üppige Palmenwälder; ich kann mich an der Welt gar nicht satt sehen. Je nach Tageszeit wirkt das Spiel zusammen mit der kontrastreichen Beleuchtung zuweilen fast kitschig – aber eben nur fast.

Story nur Nebensache

In «Tchia» wird aber nicht nur faul am Strand herumgelegen. Es gibt eine Geschichte, auch wenn die nie so recht in Fahrt kommt. Sie beginnt damit, dass unheimliche Stoff-Kreaturen namens Maano die Insel stürmen. Sie stehen unter der Kontrolle von Meavora, dem tyrannischen Herrscher des Archipels. Dieses Wesen lässt Tchias Vater entführen, was das aufgeweckte junge Mädchen natürlich nicht so hinnimmt.

Tchias Vater rechts im Bild wird zu Beginn des Spiels entführt.
Tchias Vater rechts im Bild wird zu Beginn des Spiels entführt.
Quelle: Awaceb

Also irgendwie doch, denn als wäre nichts passiert, zeigt mir das Spiel als erstes all die wunderbaren Dinge, die man im Sommerurlaub machen kann. Zwar steht irgendwann in meinem Questlog, ich soll ein paar Perlen, ein Hühnerei und weitere Sachen für eine Audienz bei Meovora sammeln. Dringend wirkt das aber nicht. Die Story bleibt Nebensache. Dabei hätte sie mit der Mischung aus Coming of Age und Kampf gegen ein mystisches Wesen, das sich von Kindern ernährt, durchaus Potenzial. So bleibt es beim lauschigen Märchen, das Erwachsene ihren Kindern am Lagerfeuer erzählen.

Was über die Story allerdings vermittelt wird, ist die Kultur Neukaledoniens. Das fängt an bei der Sprache. Die Figuren im Spiel werden von Einheimischen synchronisiert, die entweder Drehu oder Französisch reden. Drehu sprechen weltweit gerade mal 12 000 Personen. Auch für den Soundtrack hat Awaceb auf lokales Talent gesetzt. Die Flötenklänge sind der perfekte Begleiter auf meinen Streifzügen durch die bunte Welt von «Tchia». In regelmässigen Abständen darf ich auch selber musizieren. Ähnlich wie in «Guitar Hero» muss ich im richtigen Moment mit dem Analog-Stick die passende Note auswählen und im Takt drücken. Mal mit der Ukulele, mal mit traditionellen Holzschlag-Instrumenten. Die Lieder treffen nicht immer meinen Geschmack, aber sie sorgen für eine angenehme Schwermütigkeit.

Mit der Ukulele kann die Tageszeit verstellt werden.
Mit der Ukulele kann die Tageszeit verstellt werden.
Quelle: Awaceb

Meditative Ferienwelt

Im Kern des Spiels geht es darum, die Welt zu erleben. Dabei kann sich Tchia nicht nur auf ihre eigenen Arme und Beine verlassen, sondern auch auf die der tierischen Bewohner. Die Protagonistin hat nämlich eine besondere Gabe, dank der sie in jedes beliebige Tier schlüpfen kann. Dazu muss ich nur eine Taste drücken und schon leuchten Tiere in unmittelbarer Nähe gelb auf. Mit einer weiteren Taste kann ich einen Seelensprung machen und das Tier für kurze Zeit steuern. Mit einem Vogel durch die Luft zu gleiten, als Wildschwein durch die Wälder streifen oder als Delfin Korallenriffe erkunden, bleibt bis zum Schluss das beste Feature des Spiels. Es bietet eine neue Perspektive und ich fühle mich richtig mit der Natur verbunden. Obendrauf ist es die schnellste und beste Reisemöglichkeit. Der Seelensprung funktioniert auch mit Objekten wie Kokosnüssen oder Steinen. Abgesehen von der Hauptquest habe ich das aber nie gebraucht.

Tchia ist auch ohne tierische Hilfe mobil. Wie sehr, zeigt ein Ausdauerblitz, der gleichzeitig als Lebensanzeige dient. Er zeigt an, wie lange ich durch die Luft schweben, steile Wände erklimmen und in tiefe Gewässer abtauchen kann. Im Körper einer Notou, eine Art bunte Taube, geht das deutlich eleganter. Im Wasser wiederum ist niemand schneller als der Delfin oder der Riffhai. Manchmal wähle ich trotzdem die gemütliche Schildkröte. Sie schwimmt so anmutig durchs Wasser.

Jedes Tier kann von Tchia kurzzeitig gesteuert werden.
Jedes Tier kann von Tchia kurzzeitig gesteuert werden.
Quelle: Awaceb

Bin ich doch mal zu Fuss unterwegs, kann ich an Bäumen hochklettern und mich mit Schwung von Baumwipfel zu Baumwipfel katapultieren. Damit reise ich nicht so schnell wie mit dem Seelensprung, spassig ist es allemal. Dann gibt es noch das Floss. Das kann ich an jeden Bootssteg bestellen, sollte ich es mal wieder irgendwo vergessen haben. Damit bin ich noch flotter unterwegs als mit den Meeresbewohnern. Besonders beim Reisen von einer Insel zur anderen ist es unverzichtbar.

Eine Schnellreisefunktion gibt es in «Tchia» nicht. Auch keine Karte, die exakt anzeigt, wo ich bin. Ausser bei Wegweisern verrät mir die Karte lediglich meinen ungefähren Standort. Dank des Kompasses und indem ich Orte anpinne, ist das halb so wild. Es sorgt dafür, dass ich die Welt aufmerksamer erkunde und mich schnell zurechtfinde, ohne ständig auf eine Minimap zu starren.

Jede Menge Freizeitaktivitäten

Sowohl die Ausdauer als auch den Seelensprung kann ich verbessern, indem ich die entsprechende Pflanze finde und verspeise. Die Ausdauerpflanzen sind auf der ganzen Insel verteilt und leicht durch ihr gelbes Leuchten auffindbar – besonders bei Nacht. Die Seelenfrucht hingegen gibt es nur hinter verschlossenen Schreinen. Solche Pforten öffnen sich, wenn ich zuvor das passende Totem geschnitzt habe und es vor dem Tor ablege. Im Schrein selbst muss ich eine kurze Prüfung bestehen. Mal muss ich mit meiner Steinschleuder schwebende Zielscheiben abschiessen. Ein anderes Mal muss ich mich an eine Statue heranschleichen und mich dabei vor ihrem tödlichen Laserstrahl verstecken. Solche und ähnliche Minispiele machen den Grossteil von «Tchia» aus. Wenn sie nicht Teil der Hauptquest sind, sind sie optional. Anspruchsvoll oder herausfordern sind sie allerdings nicht.

Die Steinschleuder wird primär in Nebenaufgaben verwendet, um Zielscheiben abzuschiessen.
Die Steinschleuder wird primär in Nebenaufgaben verwendet, um Zielscheiben abzuschiessen.
Quelle: Awaceb

Das macht auch nichts. Schliesslich bin ich in den Ferien, in einem All-inclusive-Urlaub sozusagen. Alles fühlt sich angenehm ungezwungen an. Weil ich mich nicht einfach an den nächsten Ort teleportieren kann, stolpere ich ganz natürlich von einer Aufgabe zur nächsten. Wie wär’s zum Beispiel mit einer kleinen Schatzsuche? Ich könnte auch nach Perlen tauchen in der Begleitung von Dugongs, das sind Seekühe. Oder baue ich lieber einen Steinturm? Zu kreativ, wie wär’s, wenn ich eine Meavora-Statue zerstöre oder an einer Renn-Challenge mit dem Floss teilnehmen? Ein neues Outfit für Tchia und ein neues Segel für mein Floss wären ebenfalls angebracht. Also suche ich ein Maano-Lager auf.

Dort bewacht eine Handvoll der geheimnisvollen Stoffwesen bunte Stoffhaufen. Praktischerweise stehen überall Benzinkanister und Laternen herum, mit denen ich die Maano und die Stoffhaufen in Brand setzen kann. Und wie es alle bestätigen können, die Zuhause einen grossen Kleiderstapel haben, findet sich darunter immer irgendein Schmuckstück. Die kleinen Lager mit den Maano sind ein amüsanter kurzer Zeitvertreib. Begegne ich ihnen während der Story, vergeht mir meine Ferienstimmung.

Die Stoffwesen namens Maano sind allergisch auf Feuer.
Die Stoffwesen namens Maano sind allergisch auf Feuer.
Quelle: Awaceb

Unnötiges Rahmenprogramm

Die Hauptgeschichte ist wie ein Reiseführer, der mir die wichtigsten Orte zeigt. Das gefällt mir grundsätzlich. Es sorgt für Abwechslung. Dann und wann kommt leider der übereifrige Ferienplaner zum Vorschein. Im letzten Drittel des Spiels muss ich mich regelmässig mit grösseren Maano-Gruppen anlegen. In einer Mission soll ich drei Industrieanlagen infiltrieren, in denen es von den merkwürdigen Stoffwesen nur so wimmelt. «Tchia» besteht nicht nur aus Strand und Wäldern. Auf der Südinsel gibt es auch einen urbanen Kern.

Einige Aufgaben wie das Infiltrieren von Industrieanlagen trüben den Gesamteindruck.
Einige Aufgaben wie das Infiltrieren von Industrieanlagen trüben den Gesamteindruck.
Quelle: Awaceb

Eigentlich müsste ich nur ein paar Maschinen sabotieren, um die Stoffherstellung zu stoppen. Das würde Meavora und die Maano deutlich schwächen. Aber sobald mich die Maano sehen, wickeln sie mich aus der Ferne mit ihren Stoffen ein. Es gibt sogar eine Art Geschützturm, der mich aus riesiger Distanz anvisieren kann. Das nervt besonders, wenn ich gerade einen hohen Kamin hochklettere. Ein Treffer und ich falle in Stoff gewickelt zu Boden.

Ein richtiges Kampfsystem gibt es nicht. Alles, was ich tun kann, ist den Maano explodierende Steine, die herumliegen, an den Kopf zu werfen. Aber auch das ist viel zu umständlich, weil das Inventar mit acht Plätzen winzig ist. Also renne ich meist an den Gegnern vorbei und hoffe, dass sie mich nicht erwischen. Die Action-Passagen wirken fehl am Platz und sind einfach nur umständlich. Zum Schuss des Spiels kommt noch eine Geschicklichkeitspassage hinzu, bei der ich nur fragend den Kopf schütteln kann.

Fazit: Ein fast perfekter Strandurlaub

Die Übereifrigkeit meines Ferienplaners kann mein Gesamterlebnis nicht trüben. Meine Ferien mit «Tchia» waren traumhaft. Das Spiel sieht nicht nur aus wie ein Ferienparadies, es fühlt sich auch so an. An der farbenfrohen Welt mit ihren grünen Hügeln, lauschigen Wäldern und dem türkisblauen Wasser kann ich mich nicht satt sehen. Das alleine würde in mir noch keine Feriengefühle wecken. Sonst könnte ich auch «Far Cry» oder «Crysis» spielen.

Es sind die vielen kleinen Dinge, welche die neukaledonische Kultur vermitteln. Sie ist das Herz des Spiels. Von der entspannten Hintergrundmusik, über traditionelle Gesänge in der lokalen Sprache Drehu, bis hin zu hübsch angerichteten Speisen spüre ich den neukaledonischen Einfluss an jeder Ecke.

An der Welt von «Tchia» kann ich mich nicht sattsehen.
An der Welt von «Tchia» kann ich mich nicht sattsehen.
Quelle: Awaceb

Den einzigen Vorwurf, den ich «Tchia» neben den nervigen Kämpfen mit den Maano machen kann, ist, dass es manchmal etwas langweilig ist. Aber ein entspannter Urlaub soll manchmal auch langweilig sein. Darum stören auch die Herausforderungen und Sammelaufgaben nicht, die eigentlich recht anspruchslos sind.

Mein Highlight bleibt aber der Seelensprung. Ich liebe es, in den Körper eines Vogels zu hüpfen und über die wundervolle Landschaft zu fliegen. Unterwegs sammle ich eine Ausdauerfrucht ein oder mache ein kurzweiliges Wettrennen, das eine Mischung aus sprinten, klettern und schweben ist. Im Ziel angekommen, erfrische ich mich mit einem Sprung ins kühle Meer. Dort geniesse ich die Mitschwimmgelegenheit eines Clown-Drückerfischs und bestaune die Korallenriffe.

«Tchia» ist weder spielerisch komplex, noch tiefgründig in seiner Erzählung. Die Welt zu erkunden und die Kultur kennenzulernen, hat es mir trotzdem angetan. Ich wünschte, mein Urlaub mit «Tchia» hätte noch etwas länger gedauert. Mal schauen, was so ein Flugticket nach Neukaledonien kostet …

«Tchia» ist erhältlich für PC und PS4/PS5 und wurde mir von Awaceb zur Verfügung gestellt.

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Als Game- und Gadget-Verrückter fühl ich mich bei digitec und Galaxus wie im Schlaraffenland – leider ist nichts umsonst. Wenn ich nicht gerade à la Tim Taylor an meinem PC rumschraube, oder in meinem privaten Podcast über Games quatsche, schwinge ich mich gerne auf meinen vollgefederten Drahtesel und such mir ein paar schöne Trails. Mein kulturelles Bedürfnis stille ich mit Gerstensaft und tiefsinnigen Unterhaltungen beim Besuch der meist frustrierenden Spiele des FC Winterthur. 


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