Wenn eine Zimmerpflanze die Lösung ist, was ist dann das Problem?
Meinung

Wenn eine Zimmerpflanze die Lösung ist, was ist dann das Problem?

Seit die meisten Menschen mehr Zeit in der eigenen Wohnung verbringen, versuchen viele, sie mit mehr Deko und Pflanzen zu verschönern. Doch genügt das für das Wohlbefinden in den eigenen vier Wänden oder sind andere Wohnkonzepte gefragt?

Wohnraum. Ein Raum also, der sich zum Wohnen eignet. Dessen Ausgestaltung ist momentan besonders wichtig. Wir alle sind viel öfter zu Hause, viele den ganzen Tag über. Wohnen und Arbeiten finden am selben Ort statt. Durch die viele Zeit zu Hause werden nun auch Mängel besser sichtbar. DIY-Projekte und Zimmerpflanzen haben Hochkonjunktur, vor allem in der Stadt. Die (Zimmer-)Pflanzen sind so wichtig, dass sie sogar vom Bund als essentiell eingestuft wurden und Blumenläden im Gegensatz zu vielen anderen Geschäften geöffnet bleiben durften.

Stadtflucht

Natürlich sind Pflanzen gut fürs Raumklima, machen eine Wohnung einladend und können einen positiven Einfluss auf die Psyche haben. Aber ist der Pflanzenwald im Wohnzimmer vielleicht nur ein Versuch, die Sehnsucht nach dem richtigen Wald zu stillen? Definiert sich das Wohlbefinden wirklich über den Wohnraum und nicht eher den Lebensraum? Jetzt, wo sich so gut wie alle Vorteile der Stadt – Gastronomie, Kultur, soziale Begegnungen – in Luft aufgelöst haben, bleiben Beton, Versiegelung und Anonymität zurück. Ein Umstand, der viele zu stören scheint. Seit Beginn der Corona-Pandemie ist das Wort «Stadtflucht» in aller Munde.

Wo der Wohnraum auf einmal auch Arbeitsraum und dieser unabhängig von den Büroräumlichkeiten der Arbeitgeberin ist, zieht es die Menschen vermehrt aufs Land. Noch krasser müsste für mich theoretisch die «Agglomerationsflucht» sein. Ohne jemanden vor den Kopf stossen zu wollen, existiert dieses Konzept ausschliesslich aufgrund der Stadt und funktioniert demnach auch nur in Kombination mit ihr. Die Arbeit ist dort, die Kultur auch. Die Natur hingegen in der anderen Richtung. Die Agglomeration selbst ist Übergangsraum ohne eigene Identität.

Alternative Wohnformen

In letzter Zeit rede ich oft mit Freunden über Wohnraum und Wohnformen. Obwohl wir alle die Stadt irgendwie lieben, ihre Härte und Rauheit auch als ästhetisch empfinden, häufen sich die Ideen an alternativen Wohnformen. Wäre eine Art Kibbuz, wie es sie in Israel gibt, nicht schön? Eine kleine Siedlung irgendwo im Grünen mit gemeinsamen Eigentum und gemeinsamer Entscheidungsfindung. Nichts gehört mehr dem Individuum, dafür gibt’s viel mehr, das alle nutzen können. Ein Freund findet gar keinen Gefallen daran, ihm würde die ÖV-Mobilität und dadurch die Flexibilität fehlen, um schnell Freunde und Familie zu treffen. Und ausserdem gefällt ihm die Stadt Zürich: Der Uetliberg, die Limmat, der Wald am Käferberg. Alles Naherholungsgebiete, also Natur.

Das einzige bisschen Grün hier sind die hässlichen Kunststoffplatten.
Das einzige bisschen Grün hier sind die hässlichen Kunststoffplatten.

Auch mit meiner Physiotherapeutin landete ich kürzlich beim Thema Wohnen. Sie wird bald in eine kleinere Wohnung umziehen. Das ganze Zeugs, das sich über die Jahre angestaut hat, muss weg. Während des physischen und emotionalen Ballastloswerdens steht für sie plötzlich die Frage im Raum, ob sie sich nicht gleich radikal verkleinern, dafür Spontanität gewinnen will. Ein Campervan, der auf wenigen Quadratmetern alles vereint, was sie benötigt, ihr Geborgenheit gibt, sich aber jederzeit bewegen lässt.

Verlust der Burg

Vielleicht fehlt diese Geborgenheit in der Stadt. «My home is my castle» heisst es. Im eigenen Daheim kann ich mich zurückziehen, bin ich geschützt vor fremden Blicken, bin ich ganz privat. Frag einmal meine Nachbarn, die hinter einer komplett verglasten Fassade wohnen, ob das für sie auch stimmt. Ich kann beinahe in alle Nachbarwohnungen glotzen, ausser wenn Tag und Nacht die Vorhänge gezogen oder Rollläden geschlossen sind. Aber auch durch Video Calls geben viele Menschen mehr Einblick in ihre privaten Räume als jemals zuvor. Es sei denn, sie haben auch davor schon gerne Insta-Storys von sich in jeder Lebenslage gepostet. Ja, auch Social Media hat unsere «Burg» teilweise zerstört.

Merken wir diese Zerstörung jetzt langsam, wo der ganze Trubel um uns herum in der Stadt wegfällt? Dass wir unsere Wohnungen zwar über Monate wunderschön eingerichtet haben, was zwar Spass gemacht hat, wir nun aber drinnen sitzen und uns gar nicht richtig wohlfühlen, weil die Umgebung nicht mehr passt? Wir gewähren unseren Nachbarn dauernd Einblick in unsere Wohnungen, in den sprichwörtlichen Spiegel unserer Seele, bauen dadurch aber keine Beziehungen mit ihnen auf. Wir sind bloss eine willkürliche Anhäufung an Individuen, die sich zwar räumlich nahe, emotional aber komplett distanziert sind. Die Zugbrücke zur Burg ist dauernd unten. Jeder kann hineinlaufen, aber keiner bleibt.

Klar wird der Trubel in Form von Kultur und Gastronomie bald wieder in die Stadt zurückkehren. Aber vielleicht schaffen es DIY-Projekte und Zimmerpflanzen nicht, bis dahin die Lücken zu füllen. Vielleicht ist die Sehnsucht nach Natur zu gross, der Gedanke, die Menschen im Dorf zu kennen und zu plaudern zu verlockend. Ausserdem sind wir alle durch die Krise auch kreativ geworden, wie Kultur gelebt werden kann. Neue Konzepte und Ideen sind entstanden, viel Eigeninitiative wurde gezeigt. Was spricht gegen eine Feier im Kibbuz oder eine kleine Espressobar im Campervan? Wenn die ganzen Pflanzen draussen um einen herum wachsen, ist dafür sicher auch auf geringem Raum Platz.

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Meinen Horizont erweitern: So einfach lässt sich mein Leben zusammenfassen. Ich liebe es, neue Menschen, Gedanken und Lebenswelten kennenzulernen,. Journalistische Abenteuer lauern überall; ob beim Reisen, Lesen, Kochen, Filme schauen oder Heimwerken.


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