Wie Muskeln mit anderen Organen sprechen
Hintergrund

Wie Muskeln mit anderen Organen sprechen

Unsere Skelettmuskulatur macht etwa 40 Prozent der Körpermasse aus und spielt eine wichtige Rolle im Bewegungsapparat. Vor einigen Jahren hat die Wissenschaft festgestellt, dass unser muskuloskelettales System noch weitere Funktionen besitzt als nur die Krafterzeugung.

Forscher haben herausgefunden, dass die Plasmakonzentration von Interleukin 6 nach körperlicher Aktivität deutlich ansteigt. Interleukin 6 (IL-6) ist ein körpereigener Botenstoff, der entzündungsfördernd ist und durch seine Ausschüttung weitere Zellen anzieht, welche helfen, eine Infektion oder Verletzung zu bekämpfen.

Woher IL-6 stammt, war bisher jedoch unbekannt. Stammt es von Zellen des Immunsystems? Vor einigen Jahren entdeckten Forscher dann, dass IL-6 in kontrahierenden Skelettmuskelzellen produziert wird und in den Blutkreislauf gelangt. Darüber hinaus haben sie festgestellt, dass die kontraktionsbedingte Erhöhung von IL-6 zu einer Aktivierung entzündungshemmender Antworten im Körper führt und die körpereigene Glukoseproduktion und -aufnahme erhöhen kann. Somit wurde der erste Nachweis erbracht, dass die Skelettmuskulatur Substanzen (sog. Myokine – Myo: griechisch für Muskel, kinema: griechisch für Bewegung) freisetzt, die unter anderem in der Lage sind, Stoffwechselprozesse zu beeinflussen. Diese Entdeckung führte zu einem radikalen Paradigmenwechsel. Der Muskel ist viel mehr als nur ein Gewebe, das Kraft erzeugt. Die Muskulatur ist ein Organ, welches Myokine ausschüttet. Mittlerweile sind über 3000 solcher Myokine bekannt.

Muskel – Organ-Crosstalk

Myokine rufen physiologische Funktionen hervor. Sie tun dies auf unterschiedliche Arten. Es gibt Myokine, die nur zellinterne Prozesse regulieren, solche, die Prozesse im unmittelbaren Zellumfeld anstossen oder jene, die über den Blutkreislauf verteilt werden. Zum jetzigen Zeitpunkt wissen wir, dass Myokine mit anderen Organen kommunizieren und zur Entwicklung von metabolischen und kardiovaskulären Anpassungen beitragen. Sie tun dies, indem sie sich an Rezeptoren im Muskel, Fettgewebe, Leber, Niere, Gehirn, Pankreas und Herz binden.

Muskel – Muskel-Crosstalk
Im Muskel selbst führt die Ausschüttung von IL-6 dazu, dass die Glukoseaufnahmefähigkeit erhöht wird, um den Energieanforderungen gerecht zu werden. Zusätzlich wird die Gewinnung von Energie aus Fett angekurbelt. In Mäusen wurde gezeigt, dass das Myokin Musclin zur Erhöhung der Anzahl Mitochondrien beiträgt.

Muskel – Fettgewebe-Crosstalk
Das durch Kontraktionen produzierte IL-6 hat grosse Auswirkungen auf das Fettgewebe, es steigert den Fettabbau. In einer Studie mit fettleibigen Personen, bei denen man die IL-6-Rezeptoren auf Fettgewebe mit IL-6-Rezeptoren-Antikörpern blockiert hatte, wurde durch Sport keine Reduktion der Fettmasse erreicht. In der Kontrollgruppe hingegen führte Sport zu einer Reduktion der Fettmasse.

Muskel – Leber-Crosstalk
Sport fördert die Produktion von Glucose in der Leber. In einer Humanstudie fuhren junge Männer an drei unterschiedlichen Tagen mit drei unterschiedlichen Intensitäten während zwei Stunden auf dem Veloergometer. Einmal wurde ein hochintensives Training absolviert, dann ein Training mit geringer Intensität und wiederum eines mit geringer Intensität, aber mit zusätzlicher Infusion von IL-6. Diese zusätzliche Infusion simulierte ein hochintensives Training. Die Ergebnisse aus diesem Experiment zeigten, dass durch Training ausgeschüttetes IL-6 der Auslöser für die Glukoseproduktion in der Leber war.

Muskel – Nieren-Crosstalk
Eine Komplikation bei chronischer Nierenkrankheit ist oft ein Schwund der Skelettmuskulatur, der zum Verlust von Muskelmasse und Kraft führt. Es gibt Evidenz, dass Sport chronische Krankheitsverläufe verlangsamt und das Risiko eines fortgeschrittenen Stadiums einer chronischen Nierenkrankheit reduziert. Dies führt zur Annahme, dass es eine Kommunikation zwischen Niere und Muskeln gibt. Das Myokin Irsin kurbelt Stoffwechselprozesse in der Niere an und kann somit Nierenschäden verhindern.

Muskel – Gehirn-Crosstalk
Regelmässige Bewegung hat positive Effekte auf die Gesundheit unseres Gehirns. Die Tatsache, dass Bewegung von unserem Gehirn wahrgenommen wird, deutet auf eine direkte Kommunikation zwischen der arbeitenden Muskulatur und unserem Gehirn hin. In Humanstudien demonstrierten Forscher positive Auswirkungen auf das Volumen des Hippocampus. Diese Hirnregion ist für die Informationsverarbeitung verschiedener sensorischer Systeme verantwortlich. Sie ist enorm wichtig für die Überführung von Gedächtnisinhalten aus dem Kurzzeit- ins Langzeitgedächtnis. Bei Nagetieren wurde gezeigt, dass Sport die Vergrösserung des Hippocampus anregt sowie das Lernen und Gedächtnis fördert. Studien mit Mäusen weisen darauf hin, dass IL-6 den Appetit regelt und somit in der Lage sein muss, das Gehirn zu erreichen und dort den Appetit zu regulieren.

Muskel – Pankreas-Crosstalk
Sport verbessert die Funktionen von β-Zellen in Patienten mit Prä- und Diabetes. Diese Zellen produzieren das blutzuckersenkende Hormon Insulin. Daher ist es sehr wahrscheinlich, dass der Muskel eine wesentliche Rolle in dieser Verbesserung spielt, sowohl bei gesunden als auch bei kranken Menschen. Während sportlicher Aktivität ist das Myokin Apelin stark erhöht. Dies verbessert nicht nur die Insulinsensitivität und die Glukoseentsorgung, sondern auch das Wachstum und die Vermehrung von β-Zellen.

Muskel – Herz-Crosstalk
Die Ausschüttung von IL-6 bei Sport wirkt entzündungshemmend. Somit ist es wahrscheinlich, dass ein vorübergehender Anstieg dieses Myokins zum Schutz vor kardiovaskulären Erkrankungen beiträgt.

Mach Sport!

Auch hier möchte ich das Dosis-Wirkungsprinzip nicht unerwähnt lassen. Wie bei vielen biologischen Prozessen, ist auch im Sport mehr nicht immer besser. Während Inaktivität der Gesundheit nicht zuträglich ist, sind Trainings mit nahezu maximaler bis maximaler Belastung (≥ 91% VO2max) ebenfalls suboptimal im Vergleich zu Belastungen im leichten bis moderaten Bereich (37 - 63% VO2max).

Die Muskulatur muss als Organ betrachtet werden, das enorm wertvoll für unsere Gesundheit ist. Sie ist dies jedoch nur, wenn wir sie regelmässig brauchen und fordern. Alles, was mit moderater Bewegung zu tun hat, ist für unseren Körper wertvoll und sollte – wie das mehrmalige Zähneputzen – in den Alltag integriert werden. Dies gilt besonders für die jetzige Zeit während der Pandemie.

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Molekular- und Muskelbiologe. Forscher an der ETH Zürich. Kraftsportler.


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