Der einzige Bündner Schindelmacher
Hintergrund

Der einzige Bündner Schindelmacher

Patrik Stäger steht mit zwei Jahren das erste Mal auf einem Dach – mit seinem Grossvater. Heute ist er der einzige in ganz Graubünden, der das Schindelmachen als Gewerbe betreibt. Denn von dem Handwerk leben kann man noch nicht lange.

In Untervaz, einem kleinen Dorf im Bündner Rheintal, scheint nach strömendem Regen endlich wieder die Sonne. Es riecht nach Holz, vor wie auch in der Werkstatt. Der vordere Teil ist hell, von Fenstern gesäumt. Überall liegen 42 Zentimeter lange und 1 Zentimeter dicke, fertige Schindeln, verstaut in alten SBB-Paletten oder Faltkisten. Sie sind für das neue Dach der Kirche Disentis bestimmt. «Um Schindeln für einen Quadratmeter herzustellen, brauche ich gut zwei Stunden. Das Dach der Kirche hat eine Fläche von 400 Quadratmetern.» Nach Adam Riese sind das 800 Stunden – nur für die Schindeln.

Patrick Steger hat viel zu tun. Das war nicht immer so.

Lieber Beton als Holz

1907 entsteht in Graubünden nach einer Serie von Bränden die Gebäudeversicherung und mit ihr das Feuergesetz. Ab dann sind die Schindeldächer innerhalb der Bauzone verboten. Ausnahmen gibt es nur wenige, zum Beispiel für Kirchen. Für Häuser und Ställe in der Landwirtschaftszone, die beschindelt werden dürften, braucht es oft keinen Schindelmacher. Damals beherrscht noch jeder Bauer selbst das Handwerk.

«Schon mein Ur-Nini (bedeutet im Vazer Dialekt Urgrossvater) hat geschindelt. Der hat’s dann meinem Nini weitergegeben und so weiter. Alle in meiner Familie sind oder waren mit dem Handwerk vertraut, aber ich bin der erste, der ausschliesslich davon lebt. Mein Nini, Lorenz Krättli, hatte einen Usego-Laden im Dorf, womit er sein Geld verdiente.»

Denn auch Jahrzehnte später sieht es für das Schindelhandwerk nicht besser aus. In den 60er-Jahren ist der Materialmangel aufgrund des Zweiten Weltkriegs überwunden, Rohstoffe sind günstig. Beton und Flachdach sind die dominanten Elemente dieser Architektur-Epoche.

Mit der Gründung der Bündner Denkmalpflege in den 70ern erfährt dieser Trend erstmals etwas Gegenwind. «Sie hat sich für die regionale und traditionelle Bauweise eingesetzt – also auch für Schindeldächer.» Ausser in den Südtälern Puschlav und Bergün, wo Stein das vorherrschende Baumaterial ist, wird in Graubünden traditionell mit Holz gebaut. «Bevor lange Transportwege zur Normalität wurden, hat man mit dem gebaut, was in der Umgebung vorhanden war. Ich nehme keine Engadinerlärche und verbaue sie am Bodensee, wo der Baum nicht heimisch ist.»

Die vier Grundsätze des Schindelns

Das ist einer der drei Grundsätze, die seit jeher beim Schindelmachen gelten: Das rechte Holz vom rechten Ort zur rechten Zeit. «Heute gibt es noch einen mehr. Nämlich recht gemacht.» Das rechte Holz kommt von alten, langsam gewachsenen Bäumen, die geschützt stehen. Der rechte Ort ist eben der, an dem auch gebaut wird. Geschlagen wird das Holz in der Saftruhe, also im Winter. Oder noch einfacher. «In allen Monaten, die mit dem Buchstaben r enden.» Recht gemacht bezieht sich auf die Handarbeit, die früher normal war. «Das Holz wird mit der Faser gespalten. Klar gibt es billigere Schindeln aus der Ukraine, die maschinell gesägt sind. Die halten aber viel weniger lang, weil alle Zellen zerstört sind.»

Viel Holzwissen hat Patrick über die Jahre von seinem Nini mitbekommen. Mit zwei Jahren kommt er das erste Mal in Berührung mit dem Handwerk. «Mein Ur-Nini pflegte zu sagen: Wer nicht mehr in die Hosen macht, kommt mit aufs Dach.» Ab dann hilft er seinem Nini regelmässig nach der Schule und in den Ferien. Mit 13 Jahren weiss er, dass er Schindelmacher werden will. «Mein Nini aber meinte, dass ich erst eine Lehre machen müsse und danach würden wir sehen, ob es genug Arbeit gäbe.»

Wenn schon nicht schindeln, dann immerhin ein Holzberuf, so viel weiss Patrick. «Mein Nini und ich haben zusammen das Dach des Schloss Tarasp gedeckt, wobei uns ein Schreiner geholfen hat. Wie es der Zufall so wollte, hat er gerade einen Lehrling gesucht und ich eine Lehre.» So wurde Patrick Schreiner. Möbelschreiner, um genau zu sein.

Patricks Vorliebe für Holz ist auch an seiner Wohnung erkennbar, die oberhalb der Werkstatt liegt. Auf dem Boden liegt Riemenboden, darauf steht ein massiver Holztisch. Geheizt wird mit den Holzresten, die beim Schindelmachen entstehen. «Sofern Zeit vorhanden war, habe ich die Renovationen selber gemacht.» Aber nicht nur dabei hilft die Lehre. «Durch die Schreinerlehre lernte ich, Pläne zu lesen und die Sprache der ‹Hölzigen›, also Holzarbeiter, zu sprechen, die sonst kaum verständlich ist. Oft helfen mir die lokalen Schreiner und Zimmerleute beim Häuserdecken und der Bauleiter oder Architekt zeigt mir Pläne des Projekts.»

Der Minergie-Standard sorgt für Aufwind

Zwei Jahre arbeitet Patrick auf dem Beruf in der Schweiz, macht einen Kurs für Luxusküchen in Landquart, bevor es ihn für weitere zwei Jahre nach Deutschland verschlägt. Dort arbeitet er in der Küchenplanung und übernimmt auch den Verkauf. 1995 kommt er zurück nach Untervaz. «Ab da habe ich zwei Jahre lang mit meinem Nini geschindelt, er gab mir den letzten Schliff. Denn es hat sich langsam herauskristallisiert, dass sich mit dem Schindelmachen eine Existenz aufbauen lässt.»

Das Aufkommen des Minergie-Standards sorgt für einen weiteren Aufschwung im Schindelhandwerk. «Solararchitekt Andrea Rüedi war hier in Graubünden Ende der 90er-Jahre ein Vorreiter für nachhaltiges Bauen. Sein eigenes Haus hatte eine Schindelfassade», erzählt Patrick. Die Leute interessieren sich dafür, die Holzbauweise kämpft sich zurück in die Köpfe.

Chesa Futura sichert die Zukunft

Das zeigt das Grossprojekt «Chesa Futura» in St. Moritz. Der erdnussförmige Bau von Lord Normann Foster ist komplett beschindelt – und zwar von Patrick und seinem Nini. Seit das Gebäude 2004 fertiggestellt wurde, gilt es als eines der Wahrzeichen des Engadiner Dorfes. Und brachte Patrick mehr Aufträge ein, als er stemmen konnte, denn damals gehörte der Betrieb schon ihm.

1997 findet die offizielle Übergabe zwischen Patrick und seinem Nini statt. «Er hat aber noch bis eine Woche vor seinem Tod mit mir geschindelt.» Aus dieser Zeit stammt auch Patricks Lieblingsanekdote. «Nini war schon über 80, als er die letzte Schindel an das Dach nagelte, an dem wir gerade arbeiteten. Die Tradition will es, dass bei der letzten Schindel gejauchzt wird. Nach kurzer Diskussion stiess Nini einen so lauten Juchzer aus, dass ihm sein Gebiss aus dem Mund sprang und via Dach herunter auf den Boden fiel.»

Die Kirche Sontga Gada in Disentis ist das aktuelle Projekt von Patrick.
Die Kirche Sontga Gada in Disentis ist das aktuelle Projekt von Patrick.

Mut zur Langsamkeit

Patrick lacht herzhaft beim Erzählen dieser Erinnerung. Für einmal sprudelt es richtig aus ihm heraus. Ansonsten spricht er mit Bedacht, langsam und gerade laut genug, dass ich ihn verstehe. Kein Wort ist zu viel. Genau so arbeitet er auch. Er nennt es Mut zur Langsamkeit. «Das soll nicht heissen, dass ich faul bin und mich verzettle, sondern dass meine Arbeit Zeit braucht. Ich kann mich an jedes Haus erinnern, das ich beschindelt habe, komme ins Gespräch mit den Bewohnern des Ortes, ich spüre eine richtige Verbundenheit.»

Die hat er auch zur Natur. Am liebsten wählt Patrick die Bäume aus. «Ich spreche erst alles mit dem Förster ab und gehe dann in den Wald. Dabei lasse ich mir Zeit, die Bäume zu spüren, sie zu berühren und so die richtige Wahl zu treffen. Hätte mein Nini das früher laut gesagt, wäre er gleich als Spinner und Esoteriker abgestempelt worden.» Heute fragen die Förster Patrick von sich aus, ob sie auf die Mondphasen schauen sollen, um das Holz zu schlagen.

Die Zeiten haben sich definitiv geändert.

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Meinen Horizont erweitern: So einfach lässt sich mein Leben zusammenfassen. Ich liebe es, neue Menschen, Gedanken und Lebenswelten kennenzulernen,. Journalistische Abenteuer lauern überall; ob beim Reisen, Lesen, Kochen, Filme schauen oder Heimwerken.


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