Ein doppeltes Glas für den massvollen Genuss
Hintergrund

Ein doppeltes Glas für den massvollen Genuss

Pia Seidel
1.7.2021

Gläser, die so breit sind, dass du sie kaum in einer Hand halten kannst. Warum sollte man so was erfinden? Weil du so langsamer und genussvoller konsumieren kannst, glaubt die Designerin Alex Viert.

Dass du im Restaurant gefragt wirst, ob du lieber einen oder zwei Deziliter Wein trinken möchtest, ist nicht neu. Doch was wäre, wenn du auch gefragt wirst, ob du ein schmales oder bauchiges Glas bevorzugst? Oder ob du lieber schnell oder langsam trinken willst? Das ist die reizvolle Prämisse hinter «Assemblage», dem Abschlussprojekt der ZHdK-Studentin Alex Viert, das von der heutigen Weinkultur inspiriert ist. Es besteht aus verschieden geformten Gläsern, die du beidseitig nutzen kannst.

Die Kollektion ist das Ergebnis der Trendstudie Vino: Im Rausch der Nüchternheit, die im Rahmen des Masterstudiums «Trends & Identity» an der ZHdK entstanden ist. Darin zeigt Alex anhand von fünf globalen Konsumtrends, wie sich die Weinkultur heute im Spannungsfeld von Genuss und Gesundheit bewegt.

Für ihre Trendstudie und Kollektion hat die Schweizer Texterin und Designerin Alex Viert tief ins Glas geschaut.
Für ihre Trendstudie und Kollektion hat die Schweizer Texterin und Designerin Alex Viert tief ins Glas geschaut.

«Corona hat die Gesundheit wieder ins Zentrum gerückt», erklärt mir Alex. Das zeige sich an Bewegungen wie der vom BAG geförderten Dry-January-Kampagne, die dieses Jahr erstmals lanciert wurde. Oder im wachsenden Bewusstsein für Wein-Inhaltsstoffe.

Pommes zum Naturwein und «Wellness Wine»

«Nonchalance Pairing» ist einer der Trends, die Alex in der Studie identifiziert. «Er bewegt sich im Feld des Genusses und bezeichnet, wie unkonventionell Wein heutzutage serviert wird. Hier wird mit Regeln wie ‹kein Rotwein zu Fondue› oder ‹Weisswein unbedingt zum Fisch› gebrochen.» Ein Beispiel dafür sei ein Pandemie-Pop-up von Noma, einem der weltbesten Restaurants, gewesen. Als man im Lockdown-Jahr nicht mehr drinnen essen konnte, hat Noma kurzerhand im Garten Burger zusammen mit Naturweinen serviert. «Die Bilder zeigen die Leute, wie sie unkompliziert auf Picknickdecken sitzen und ihr Essen geniessen – weit weg von weissen Tischdecken und formeller Kleidung.» Genauso nonchalant sollten Gläser für Alex heute daher kommen. Sie trinkt ihren Schaumwein mittlerweile lieber im Tumbler als in einer Flute.

«Wellness Wine» ist ein weiterer Trend und eine Konsequenz des Free-From-Trends, bei dem Produkte das anpreisen, was sie eben nicht enthalten – glutenfreies Brot oder laktosefreie Milch zum Beispiel», sagt Alex. «Das ‹Gesunde› ist hier die Reduktion und der Verzicht auf Zusatzstoffe.» Man erkenne «Wellness Wine» oder «Clean Wine» an Bezeichnungen wie low-carb, low sugar, low sulfite oder vegan und seiner Vermarktung: «Das Produkt wird mit Menschen gezeigt, die zum Beispiel gerade Yoga machen.»

Ob nonchalant serviert oder schadstofffrei – Alkoholkonsum ist und bleibt alles andere als gesund. Da bleibt dir nur eins übrig: Deinen Konsum zu reflektieren: «Assemblage hält dazu an, über das eigene Mass nachzudenken, es zu suchen, zu finden und zu halten – ohne dass jemand dabei den Moralfinger hebt.»

Assemblage – die Verschmelzung von Gesundheit und Genuss

Beim Forschen und bei Gesprächen mit Weinfans hat die Designerin erkannt, dass sie mit ihren Vorlieben nicht alleine ist. Viele Leute bevorzugen andere Formen und Wege, Wein zu trinken. «Zum Beispiel trinken Leute gerne langsamer, aus kleineren Gläsern oder reduzieren die Menge, die ins Glas kommt», erzählt Alex. «So bin ich auf die Idee gekommen, diese Strategien – Verlangsamen, Verkleinern und Reduzieren – in die Gestaltung neuer Gläser einfliessen zu lassen. Was würde passieren, wenn ich das Glas mit Beton beschwere oder ich den Kelch umkehre – waren Fragen, die ich mir im kreativen Prozess gestellt habe.» Nachdem sich Alex ungefähr sechzig Gläser in Brockis gekauft, zerlegt und neu zusammengebaut hatte, wusste sie, in welche Richtung es gehen könnte. Die Strategie des Umkehrens habe ihr aufgrund der Einfachheit am besten gefallen.

Auf der Suche nach der guten Form hat Alex Gläser aus dem Brocki umgestaltet...
Auf der Suche nach der guten Form hat Alex Gläser aus dem Brocki umgestaltet...
...bis sie wusste, wie Assemblage aussehen soll. Bilder: Alex Viert
...bis sie wusste, wie Assemblage aussehen soll. Bilder: Alex Viert

Du kannst ein Glas aus der Kollektion Assemblage beidseitig nutzen. Jede Seite hat ein anderes Volumen. Mit der einen Seite trinkst du mehr als einen Deziliter und mit der anderen weniger. Weil es unterschiedlich grosse Hände und Nasen sowie verschiedene Präferenzen gibt, hat Alex drei unterschiedliche Grössen entwickelt. Das breiteste Modell lässt sich nur schwer in einer Hand halten. Als ich es bei der ZHdK-Diplomausstellung in die Hand nehmen möchte, benötige ich zwei Hände dafür. Es fühlt sich so an, als würde ich aus einer Schale Wein trinken wollen. Das würde mich automatisch zum vorsichtiger trinken bringen, um nichts zu verschütten.

Heikle Angelegenheit: Ein Glas, so gross wie eine Müslischale. Bild: Alex Viert
Heikle Angelegenheit: Ein Glas, so gross wie eine Müslischale. Bild: Alex Viert

In einem nächsten Schritt möchte Alex die Trendstudie veröffentlichen und die Gläser-Serie zu einem marktfähigen Produkt machen. Sie sieht sie in Bars und Restaurants, die gerne Neues ausprobieren und vielleicht den einen oder anderen Naturwein nonchalant servieren – in der Hoffnung, dass die Begeisterung für die Designs auf die Gäste überschwappt.

«Assemblage»

Würdest du gerne mal aus den Gläsern trinken?

  • Ja
    62%
  • Nein, danke.
    38%

Der Wettbewerb ist inzwischen beendet.

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Wie ein Cheerleader befeuere ich gutes Design und bringe dir alles näher, was mit Möbeln und Inneneinrichtung zu tun hat. Regelmässig kuratierte ich einfache und doch raffinierte Interior-Entdeckungen, berichte über Trends und interviewe kreative Köpfe zu ihrer Arbeit. 


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