«Nur Neon hat diesen Magic Glow»
Hintergrund

«Nur Neon hat diesen Magic Glow»

Eine Handvoll Neonglasbläser gibt es heute noch in der Schweiz. Einer davon ist Christian Bärtschi. Seit 30 Jahren formt er Glasröhren zu Buchstaben und Kunst. Kunst, die nach langer Krise wieder mehr Beachtung findet.

Der Zug ist voll. Links, auf der Gepäckablage, türmen sich Rucksäcke und Wanderstöcke. In den Viererabteils trifft atmungsaktive Kleidung auf grobes Schuhwerk. Thun lockt die Menschen mit den umliegenden Bergen. Dem Niesen, dem Stockhorn, etwas weiter auch schon Eiger, Mönch und Jungfrau. Und dann ist da noch der See.

Tagesausflügler, das ist die Klientel der Kleinstadt. Das war nicht immer so eindeutig. Früher, bis vor 13 Jahren, zieht Thun auch Feierwütige, Künstler und Freigeister an.
Einer davon ist Christian «Didu» Bärtschi, Neonglasbläser aus Steffisburg. Einer der letzten Überlebenden einer krisengebeutelten Branche.

Christian sitzt am Computer in seiner Werkstatt und designt ein neue Lichtwerbung. Seine beige Schiebermütze harmoniert mit der hochgekrempelten Cargohose, das graue T-Shirt mit dem Vollbart. Neben ihm steht ein grosser Plotter, darüber ein altes Plakat mit allerlei Schriftarten. Es ist die gewöhnlichste Ecke in dem grossen Raum. Sonst zieren ihn eine Discokugel, eine Plastikpalme, zwei Motorräder, ein rotes Gartenbänkli und ein grosses Modellflugzeug, das von der Decke hängt. Auf einem Bistrotisch sind noch Dutzende kleine Modell-Passagierflugzeuge aufgestellt. An den grünen Wänden hängen Konzert-Poster, Fotos, Lametta und natürlich Neonbeleuchtung. Die Werkstatt ist eine übergrosse Konservendose für die künstlerische Atmosphäre des ehemaligen Selve-Areals.

Neonschilder für die Selve

Thun, 1993. Zwischen Aare und Eisenbahnlinie wird seit 198 Jahren Metall verarbeitet. Erst unter dem Namen Schweizerische Metallwerke Selve und Co., zum Schluss als Teil der weltweit tätigen Swissmetal Industries AG. Dann verstummen die Maschinen des alten Metallwerks – Überkapazität wird als Grund genannt. Beizen, Clubs, Ateliers und Kleingewerbe treten an ihre Stelle. Zum Teil legale, zum Teil nicht ganz legale Zwischennutzungen. Trotzdem bleiben sie 13 Jahre lang bestehen. Bis der Wunsch nach zahlungskräftigerer Kundschaft auch die Selve erreicht. Heute sind die alten Fabrikgebäude modernen Wohnungen, einem kantonalen Verwaltungszentrum und einer Alterssiedlung gewichen.

«Die Atmosphäre in der Selve war vor der Gentrifizierung unglaublich kreativ, alles schien möglich», erzählt Christian in breitem Berndeutsch. Er ist dort nicht nur Besucher, sondern steht mit seiner Band «Amarillo Brillo» auch ab und zu auf der Bühne. Und er fertigt für die Gewerbe Neonschilder an.

1991 beginnt Christian, das Handwerk des Neonglasbläsers zu erlernen. Nach seiner Ausbildung zum Elektriker ist für ihn schnell klar, dass er umsatteln will. «Als Kind sah ich in San Remo einen alten Mann durch die offene Türe Neonglas blasen. Seither bin ich davon fasziniert.» Die Suche nach einem Betrieb ist nicht einfach. Überall fragt er an, im Aargau wird er schliesslich fündig. «Bei Neon Lanz in Dintikon durfte ich anfangen – ohne Lohn. Am Anfang ist man völlig unproduktiv, also habe ich noch allerlei anderes Zeug erledigt, um etwas zu verdienen», sagt Christian und lacht laut. Er klingt nostalgisch, aber nicht wehmütig.

Christian Bärtschi bläst seit 30 Jahren Neonglas.
Christian Bärtschi bläst seit 30 Jahren Neonglas.

Glas, Feuer und viel Konzentration

30 Jahre ist das her. Die Leidenschaft ist noch dieselbe, nur die Produktivität ist gestiegen. Sobald er mit dem Glasblasen beginnt, ist Christian absolut konzentriert. Sein Gesicht wird ernst, seine Augen haften an der Glasröhre in seiner Hand. Er ist ganz ruhig, aus seinem Mundwinkel hängt ein pfeifenähnliches Mundstück, das über einen Schlauch mit dem Glas verbunden ist. Nur noch die Flammen, die wie bei einem Vulkan an Silvester aus der metallenen Öffnung schiessen, sind zu hören. Christian dreht die Röhre ununterbrochen – aber nicht hastig – vor und zurück. Er kennt das Material genau. Weiss, wann das Glas heiss genug ist, um es von der Flamme zu nehmen und schnell zu formen. Weiss, wie stark er in sein Mundstück blasen muss, um den Durchmesser der Röhre beizubehalten.

Noch während der Ausbildung in Dintikon wird er bei einem Termin bei der Rovo in Zürich abgeworben. Danach folgen ein paar Jahre in Regensdorf bei der Neonlicht AG, bevor sich Christian in Steffisburg, wo er aufwächst, selbstständig macht. «Die Neonlicht AG hatte auch in Bern eine Filiale, so sind die Monteure oft zu mir gekommen, anstatt extra jedes Mal in den Kanton Zürich zu fahren. Das hat mir den Start erleichtert.» Am Anfang sind sein Bruder und ein Freund noch mit dabei, doch das funktioniert nicht richtig. «Ich bin nicht der beste Chef und komme selber mal gerne zu spät, da kann ich niemanden disziplinieren.» Und ausserdem kommen Mitte der 2000er LED-Lampen auf den Markt.

Krise durch LED

Die Leuchtdioden verdrängen Neon fast komplett. Sie sind günstiger und einfacher zu handhaben. «Früher wurden vor allem Buchstaben oder Kästen mit Neon ausgeleuchtet und dann mit Plexiglas verkleidet. Neonglas kann man nur von Hand herstellen, mit LED hingegen konnte plötzlich jeder selbst die Lichter montieren.»

Viele Neonglasbläser müssen aufhören. Christian hält sich mit Jobs als Elektriker und als Pilot für Deltaseglertrips in Interlaken über Wasser. «Das war richtige Akkordarbeit: Tourist begrüssen, ein paar Scherze, Verabschiedung, Bezahlung und dann dasselbe nochmals und nochmals.» Aber auch Neonbeleuchtungen macht er noch immer, wenn auch sporadisch. «In der Kunst war Neon nie weg. Sie liebt dieses weiche Licht, diesen typischen Magic Glow.»

Das allererste Mal war dieser 1912 als Neonwerbung über einem Coiffeursalon in Paris zu sehen. Erst 14 Jahre vorher wurde das Edelgas von zwei britischen Chemikern entdeckt. Georges Claude, selbst Chemiker und Ingenieur, kombinierte für seine Erfindung die Entdeckung von Neon mit der Geisslerröhre, die zur Untersuchung von Gasentladungen genutzt wird. Nach jahrelangen Experimenten und Basteleien präsentiert er 1910, an der Expo in Paris, seine Neonröhrenlampe der Öffentlichkeit. Sein Partner Jacques Fonseque verkauft zwei Jahre später ebendiese Coiffeurwerbung, aber erst ein Jahr später folgt der richtige Durchbruch, als auf einem Pariser Dach das Wort «CINZANO» erleuchtete.

Die Ecken bringt kaum jemand so scharf hin wie Christian.
Die Ecken bringt kaum jemand so scharf hin wie Christian.

Kool & the Gang und der Sprayer von Zürich

Auch Christians Werke leuchten in der ganzen Schweiz und sogar im umliegenden Ausland von, an oder in den Häusern. Mal als Werbung, mal als Beschriftung, mal als reine Dekoration oder Kunst. Eines seiner Markenzeichen sind die scharfen Ecken, sie sind fast wie auf Gehrung geschnitten. «Damit hat mich mein erster Chef im Aargau dauernd geplagt», erzählt Christian und beginnt zu lachen. Wie jedes Mal, wenn er sich an eine Anekdote erinnert.

«Schau, hier sind Kool & the Gang in einer New Yorker U-Bahn-Station», Christian holt ein Foto von der Wand, das etwas versteckt hinter einem Bild des World Trade Centers mit einem Reissnagel befestigt ist, «die sind da ganz spontan aufgetreten, als ich gerade auf den Zug gewartet habe». Christian ist Ende der 1990er im Rahmen eines Neonglasbläser-Workshops in Brooklyn, um neue Techniken zu lernen. «Ich war aber handwerklich schon um einiges weiter als die meisten anderen. Nur ein Typ aus Kalifornien, Ron, war ähnlich erfahren. Wir haben zusammen im Studentenwohnheim gewohnt und sind ständig um die Häuser gezogen.»

Ein Relikt aus der Zeit in den USA.
Ein Relikt aus der Zeit in den USA.

Es gibt viel, an das sich Christian gerne erinnert. Er erzählt von einem Auftrag in Italien, wo er und sein Bruder Beno eine eigens gefertigte Lichtinstallation in einem Wohnzimmer anbringen soll – und noch vor dem ersten Handgriff von der Familie zu Spaghetti an den Tisch gebeten wird. Dann vom Hotel Jean-Jacques Rousseau in La Neuveville, wo er die ikonischen Neonlettern ersetzt und die alten mit in seine Werkstatt nimmt und aufhängt. «Neonlichter sind wie ein guter Hürlimann-Traktor: Sie laufen ewig – also gut 40 Jahre –, wenn sie nicht zerschlagen werden.»

Am liebsten aber denkt er an Harald Nägeli zurück, den Sprayer von Zürich. In pinkem Neon prangt über dem Eingang zum Schiffbau eine grosse Nägeli-Figur. Ein Geschenk des Künstlers an die neue Leitung des Schauspielhauses. Geformt wird das Strichmännchen von Christian. «Ich habe sogar noch eine unterschriebene Zeichnung von ihm bekommen», erzählt er mit begeisterter Stimme und kramt das eingerollte Werk gleich hervor.

Neon an sich leuchtet aber nicht pink, sondern rötlich, sobald es sich entlädt. Mit Argon gemischt leuchtet die Röhre blau. Um noch mehr Farben zu bekommen, greift Christian auch auf Filterglas zurück. «Das ist echtes Muranoglas.» Ansonsten benutzt er auch Pilex- und bleifreie Gläser. «Früher wurde fast nur mit Bleiglas gearbeitet, aus Gründen des Gesundheitsschutzes wird es heute aber nicht mehr eingesetzt.» Die Glasröhren bezieht er heute vor allem aus Norditalien, in der Schweiz mussten alle Hersteller in der LED-Krise dicht machen. Wo keine Neonglasbläser sind, braucht’s auch kein Glas dafür. Auch in Italien haben nur die innovativen Betriebe überlebt.

Der Meister und kein Lehrling

Heute ist Neon wieder ein Trend, wie vor allem in hippen Bars und grossen Firmen zu sehen ist. Nach 12 Jahren der Krise hat Christian wieder viel zu tun. So wie auch die schätzungsweise vier anderen Neonglasbläser in der Schweiz. Einer davon ist Manuel Cotta. «Er arbeitet ganz in der Nähe und ist seit Jahren ein guter Freund. In meinem Beruf ist es schwer, mit jemandem fachsimpeln zu können.»

Einen Lehrling, wie Christian selbst einer war, hat er nicht. Potenzielle Kandidatinnen und Kandidaten seien nicht hartnäckig genug gewesen und hätten nach dem ersten Rückschlag bereits aufgegeben. Oft hätten Leute das Gefühl, dass ein Monat genüge, um das Handwerk zu beherrschen. «Dabei ist es wie bei einem Musikinstrument. Am Anfang kannst du gar nichts, nach ein paar Wochen vielleicht “Alle meine Entchen”, nach ein paar Monaten das erste Menuett, aber um richtig gut zu werden, braucht es jahrelange Übung.»

Christian ist mit seinen 30 Jahren Erfahrung für das Neonglasbalsen wie Glenn Gould für die Klaviermusik. Um Christians Kunst kommt man nämlich nicht herum. Zumindest nicht in urbanen Räumen, auf den Bergen wahrscheinlich schon. Das spielt aber keine Rolle. Der Magic Glow der Neonröhren entfaltet seine volle Wirkung erst, wenn die Tagestouristen schon längst wieder auf dem Heimweg sind.

87 Personen gefällt dieser Artikel


User Avatar
User Avatar

Meinen Horizont erweitern: So einfach lässt sich mein Leben zusammenfassen. Ich liebe es, neue Menschen, Gedanken und Lebenswelten kennenzulernen,. Journalistische Abenteuer lauern überall; ob beim Reisen, Lesen, Kochen, Filme schauen oder Heimwerken.


Diese Beiträge könnten dich auch interessieren

Kommentare

Avatar