Warum ich heiss auf die EM bin
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Warum ich heiss auf die EM bin

Diese Fussballbranche. Schrecklich, was da abläuft. So denke und rede ich, bis das nächste Turnier vor der Tür steht – und mit ihm all die schönen Erinnerungen.

Ich kam als Kameramann und ging mit einem Filmriss. Sommer 2004, eine griechische Kneipe in Köln. Während die hellenische Heldentruppe in Portugal mit Teamgeist und Spielglück auch im Endspiel der EM die Gesetze des Fussballs aushebelte, schob mir der nervöse Wirt einen Ouzo nach dem anderen über den Tresen und griff selbst zu allem entschlossen zu. Yamas! Schluck für Schluck verlor ich den Fokus, vergass zu filmen und ging im Moment auf.

Wir zitterten, schrien, lachten und lagen uns in den Armen. Wir tanzten Sirtaki auf den Tischen und spielten Fussball an der Bar. Es war ein einziger Rausch, und der beste Sport der Welt hatte es wieder mal geschafft. Absolute Ekstase, obwohl in 2000 Kilometern Entfernung neunzig Minuten lang wenig passierte. Nur einmal flog ein Ball in ein Netz, Charisteas’ Kopfball krönte Griechenland zum Europameister und der junge Cristiano Ronaldo vergoss bittere Tränen.

Fussball ist nicht fair, das Leben auch nicht. Ich liebe beides. Lasst es uns feiern. Rumpeltruppen bejubeln und brillante Spieler verfluchen, für 90 oder 120 Minuten. Es ist nur ein Spiel. Dieser Satz fällt oft. Er stimmt. Aber er wird der Sache nicht gerecht. Was heisst da «nur»? Was gibt es denn Besseres als ein Spiel? Wir brauchen solche Momente, um Freude und Leid zu teilen. Ich schmiss 2000 beim Autokorso zum Finaleinzug mit Italienern Spaghetti in die Luft und stand 2008 mit Tausenden im Zürcher Platzregen, der pünktlich einsetzte, als Ada Turan in der 92. Minute alle EM-Träume der Nati beerdigte. Nein, Fussball ist nicht gerecht. Und das ist gut so. Denn beim nächsten Mal fällt vielleicht dir oder deinem Team das Glück vor die Füsse.

 Das Fussball-Gen

Wer Fussball spielt oder gespielt hat, liebt den Sport anders. Der Drang zu kicken und zu gucken, scheint irgendwo in den Genen zu stecken. Entweder du hast ihn, oder du hast ihn nicht. Wenn du ihn hast, fehlt dir in aller Regel das Talent derer, die nach den grossen Titeln greifen. Aber du weisst, wo sie herkommen. Wie sie angefangen haben. Auf dem Bolzplatz in der Nachbarschaft, auf der nächstbesten Wiese, in der Banlieue. Ein Ball, zwei Teams, Tore oder ein paar Taschen. Dann zählt, was du kannst. Selbst wenn es nicht viel ist, schenkt dir der Sport grosse Gefühle. Überraschende Siege und bittere Niederlagen, weil Fussball eben immer auch ein bisschen Roulette ist. Wir setzen alles auf Rot oder Schwarz, nicht immer stehen die Chancen 50:50, aber die Möglichkeit zu gewinnen, besteht.

An der EM kann alles passieren

Während die grossen Ligen erfolgreich daran arbeiten, mit viel Geld den Zufall auszuschalten, kann bei der Europameisterschaft alles passieren. Zehnmal mehr Einwohner zu haben garantiert nicht, dass zwei brauchbare Aussenverteidiger dabei sind. Mit dem zehnfachen Budget würde er einfach gekauft. An der EM stehen Superstars neben Durchschnittsprofis auf dem Platz und die Frage ist, wer wen auf sein Niveau zieht. Wer die Nerven behält und welche Männer-WG im Laufe der Wochen den Teamgeist entwickelt, den es für ein Turnier braucht.

Die Spieler sind Stellvertreter unserer früh geplatzten Träume. Sie spielen für all die, bei denen aus dem Drang zu kicken keine Karriere, sondern nur ein Knorpelschaden wurde. Ich gönne ihnen die grosse Bühne. Natürlich ist das Drumherum verkommen. Die Strukturen, Verbände und Berater. Die Steuertricks, die abgezweigten Millionen und linken Touren. Aber Skandale, Exzesse und verschobene Turniere sind keine Erfindung der Neuzeit. Und der Fussball hat diese Probleme nicht exklusiv.

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Die Probleme entstehen in allen Branchen durch die Menschen, die Geld und Profit über alles stellen. Nicht durch Spielkinder. Kein Sechsjähriger übt Steuertricks. Millionen üben Tricks mit dem Ball. Diejenigen, die am 11. Juli in Wembley den Pokal in den Händen halten werden, wollten immer nur spielen. Sie werden sich freuen wie kleine Kinder und ihren Kontostand vergessen.

Im Laufe des Turniers werden Tränen der Freude und Verzweiflung fliessen. Ich werde sie nicht mit Ouzo begiessen. Aber ich werde zuschauen, Träume platzen und in Erfüllung gehen sehen. Mein Sohn wird jubeln und weinen, wir werden die besten Szenen nachspielen und zusammen im Moment aufgehen. Der Fussball ist nicht tot und wird es niemals sein. Dafür ist das Spiel einfach zu gut.

Meine Meinung. Für den Kollegen Bardelli ist Fussball dagegen längst gestorben:

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Sportwissenschaftler, Hochleistungspapi und Homeofficer im Dienste Ihrer Majestät der Schildkröte.


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