Wer gewinnt den Kampf um unsere Daten?
Hintergrund

Wer gewinnt den Kampf um unsere Daten?

Unsere Daten: Alle wollen sie. Und Social Media-Plattformen wie Facebook oder TikTok bilden bei diesem Data-Race nur die Spitze des Eisbergs. Wie können wir den ungleichen Kampf gewinnen? Eine Antwort auf diese Frage kommt vom Hönggerberg.

Du bist Online-Shopper der ersten Stunde. Hast seit Jahren ein Konto bei Facebook und Instagram. Du treibst Sport, nutzt ein Wearable und zeichnest damit deine Aktivitäten auf. Deine Ess- und Schlafgewohnheiten trackst du ebenfalls. Ausserdem gehst du auch offline einkaufen und zückst an der Kasse deine Cumulus-Karte. Sehr schön, vielen Dank für all deine Daten. Dazu passt auch die Meldung, dass Google für 2.1 Milliarden Dollar Fitbit kaufen wird.

Daten, überall Daten

Meine Daten, deine Daten, unsere Daten. Wem gehören sie und was machen wir damit? Ernst Hafen ist Doktor der Molekular- und Zellbiologie und Professor an der ETH Zürich. Er hat eine radikale Antwort auf diese Frage: «Unsere Daten gehören uns und wir geben sie freiwillig weiter – zu Forschungszwecken. Und zwar nicht nur die Daten von Facebook und Co., sondern auch unser entschlüsseltes Genom.»

Prof. Dr. Ernst Hafen in seinem Büro auf dem Hönggerberg.
Prof. Dr. Ernst Hafen in seinem Büro auf dem Hönggerberg.

Das Rezept Mensch

Ernst Hafen zeigt mir bei meinem Besuch an der ETH ein Buch. Es ist gross, dick und trägt den Titel «Das menschliche Genom: Chromosom X». Das Erbgut (Genom) des Menschen besteht aus sechs Milliarden Buchstaben. Unsere Doppel-Helix setzt sich aus je drei Milliarden Sprossen oder eben Buchstaben unseres Vaters und unserer Mutter zusammen. Das Rezept Mensch, seit zwölf Jahren entschlüsselt. In diesem Wälzer sind 154 Millionen Buchstaben aus einem männlichen Chromosom zu Papier gebracht. Wollte man alle sechs Milliarden Buchstaben drucken, gäbe das insgesamt 46 solcher Bücher. Je 23 von der Mutter und 23 vom Vater.

Diese Informationen befinden sich in jeder einzelnen unserer Zellen: in jeder Hautzelle, in jeder Darmzelle, in jeder Nervenzelle. Und jedes Mal, wenn sich eine dieser Zellen teilt, schreibt unser Körper die 46 Bücher neu. Möglichst fehlerfrei.

Nur mit der Lupe und auch dann fast nicht zu erkennen: Buchstaben, die Mensch machen.
Nur mit der Lupe und auch dann fast nicht zu erkennen: Buchstaben, die Mensch machen.

6 000 000 000 Buchstaben, ziemlich viele Daten.
Ernst Hafen, Biologe: Ja, sehr viele. Man wollte ursprünglich das gesamte Genom in einem Buch abdrucken, hat sich dann aber auf ein Chromosom beschränkt.

Gewisse Buchstabenzeilen in diesem Buch sind fett markiert. Was bedeutet dies?
Das sind unsere Gene. Die Bauanleitungen für unsere Proteine im Körper. Insgesamt besitzt der Mensch 25 000 Gene.

Da sind aber nur einige wenige Zeilen fett. Was ist mit dem grossen Rest?
Das wissen wir heute noch nicht und wird die Forscher in den nächsten Jahrzehnten auf Trab halten.

Ist Ihr Genom eigentlich entschlüsselt?
Meines sowie das Genom meiner drei Söhne und das meiner Frau. Seit zwölf Jahren ist dies möglich. In den USA gibt es Firmen, die darauf spezialisiert sind. Eine davon ist 23andme, ein Google-Spinoff. Da werden von den sechs Milliarden Buchstaben rund 1 Millionen Variablen abgefragt. Das kostete damals 400 Dollar, heute noch 100. Die vollständige Entschlüsselung kostete damals 100 Millionen Franken, heute noch 1 000.

Wie bitte? Das entschlüsselte Genom Ihrer Familie ist in Besitz von Google?
Ja, das ist so. Aber sehen Sie, ich bin Biologe. Und die Möglichkeiten, die sich mir hier als Bürger, nicht als ETH-Professor, auftun, sind faszinierend. Ich werde so zum «Citizen Scientist» und kann mit meinen Genom-Daten einen unschätzbaren Beitrag zur Forschung leisten. Wir müssen aber noch weiter gehen.

Wir stehen in Konkurrenz mit dem marktorientierten Überwachungskapitalismus der USA und dem staatlich kontrollierten Modell Chinas.
Ernst Hafen

Wie meinen Sie das?
23andme hat nun die Daten von mir und meiner Familie und handelt damit. Okay, das ist deren Geschäftsmodell. Aber eigentlich ist es doch unfair, dass wir unsere Fitness-, Schlaf- oder eben Genom-Daten irgend jemandem überlassen und dafür im Gegenzug eine Gratis-Dienstleistung in Form einer App oder einer Social Media-Plattform erhalten. Wäre es nicht sinnvoller, wir würden mit unseren Daten etwas Gescheites anfangen?

Zum Beispiel?
Wir verstehen bis heute nicht wirklich, wie Ernährung funktioniert. Die ganzen Diät-Studien sind im Prinzip Blödsinn, da der Zusammenhang zwischen Ernährung und Gesundheit so komplex und individuell ist, dass es keine allgemeingültigen Antworten gibt. Wir brauchen Millionen von Daten von Individuen, die einen aktiven Beitrag zur medizinischen Forschung leisten. Diese hat jedoch, wenn überhaupt, nur sehr begrenzten Zugriff auf Daten aus Spitälern oder von Hausärzten. Zum grossen Rest, wie beispielsweise den Gesundheitsdaten auf Smartphones oder Wearables von unzähligen Menschen, hat man in der Regel keinen Zugang. Diese Daten wären aber ungemein interessant für die Forschung oder für Spitäler.

Ein anderes Beispiel: Nehmen wir an, Sie haben ein neues Hüftgelenk bekommen. Mit der App der Klinik, in der Sie operiert wurden, zeichnen Sie nun nach der Operation Ihre Genesung auf – wie viele Schritte Sie pro Tag gehen, welche Beschwerden Sie haben und so weiter – und stellen diese Daten der Klinik zur Verfügung. Auf diese Weise generieren Sie einen «Patient Reported Outcome», der für die Klinik und das ganze Gesundheitssystem extrem wertvoll ist.

Schön und gut. Aber was habe ich davon, wenn ich meine Daten zur Verfügung stelle?
Gute Frage. Sie führt uns zu den drei Grundeigenschaften von Daten: Erstens sind sie kopierbar, zweitens sind wir alle Daten-Milliardäre, egal, ob in der Schweiz oder in Tansania, alle haben ähnlich viele persönliche Daten. Und drittens können wir die grössten Datensammler werden. Google oder Galaxus wissen zwar viel über mich, aber längst nicht alles. Sie selber wüssten am meisten über sich, wenn Sie alle Ihre Daten zusammenführen könnten. Sind Sie im Besitz all Ihrer Daten von Google, Ihrer Cumulus-Karte, Ihres Wearables, etc.?

Könnte auch ein Stellwerk der SBB sein, ist aber die schematische Darstellung der 23 Chromosomen.
Könnte auch ein Stellwerk der SBB sein, ist aber die schematische Darstellung der 23 Chromosomen.

Einzeln eventuell schon. Aber nicht zusammengeführt, nein.
Sehen Sie. Die Aggregation dieser Daten wäre aber sinnvoll. Stellen Sie sich das wie ein Bankkonto vor. Ein Ort, an dem Ihr Vermögen zusammengeführt lagert. Wenn Sie eine Frage zu Ihrer dritten Säule haben, gehen Sie zur Bank und lassen sich gegen ein Honorar beraten. Und genau so wird in Zukunft die Daten-Dienstleistungsbranche funktionieren. Stellen Sie sich ein Start-up vor, das Ihnen aufgrund Ihrer Cumulus-Daten plus Genom-Daten und Ihren Blutwerten einen Ernährungsplan entwickelt.

Ist das Ihr Business-Modell nach der Pensionierung als ETH-Professor?
Es ist heute schon mein Business-Modell, wenn Sie so wollen. Es geht dabei aber nicht um den Handel mit Ihren Daten. Da existieren bereits Plattformen, die das tun. Die Daten werden an den Meistbietenden verkauft. Ich bin allerdings der Meinung, dass Kapitalismus hier nicht funktioniert. In den USA erhalten Sie fürs Blutspenden 70 Dollar. Dann gehen nur noch die Leute spenden, die auf das Geld angewiesen sind. Die anderen nicht. Das kann es nicht sein.

Sie sind Präsident der Verwaltung der Midata Genossenschaft.
Genau. Midata wurde 2015 als Nonprofit-Organisation in Kooperation mit der ETH Zürich und der Universität für angewandte Wissenschaften Bern gegründet; mit dem Ziel, einen Weg aufzuzeigen, wie Daten für das Gemeinwohl genutzt und gleichzeitig die Ansprüche der Bürgerinnen und Bürger auf Kontrolle über ihre personenbezogenen Daten gewahrt werden können.

Wie funktioniert das konkret?
Die persönlichen Daten werden auf der Datenplattform von Midata gespeichert. Kontoinhabende können an App-basierten Forschungsprojekten teilnehmen und von App-basierten Dienstleistungen profitieren. Alle Datensets sind verschlüsselt, Zugriff auf ihre Daten haben nur die individuellen Kontoinhabenden. Jeder Datenzugriff wird protokolliert. Um globale Forschung und klinische Studien zu ermöglichen, wird ein sicherer Datenzugriff über verschiedene nationale Genossenschaften eingerichtet, wobei die Kontoinhabenden stets die Kontrolle über ihre Daten behalten.

Geld oder Leben? Beides!

Ohne jeglichen finanziellen Hintergedanken?
Im Gegenteil. Aber eben nicht, um aus Ihren Daten möglichst schnell möglichst viel Profit zu ziehen. Nehmen wir die Pharma-Industrie. Die Kosten und der Aufwand für klinische Patienten-Studien sind immens. Roche oder Novartis können mit einer klinischen Studie erst beginnen, wenn sie 3 000 Patienten rekrutiert haben. Jeder Tag, der vergeht, bis sie diese 3 000 Patienten beisammen haben, heisst einen Tag weniger Patentschutz. Das bedeutet für ein Medikament mit einem Jahresumsatz von rund 3.5 Milliarden Dollar etwa 10 Millionen pro Tag. Verstehen Sie? In Zukunft kommen dann Roche oder Novartis zu einer Plattform wie Midata und sagen: Wir brauchen die Daten von 3 000 gesunden und kranken Menschen für eine klinische Studie zu einem neuen Alzheimer-Medikament. Wir stellen diese Daten – aber nur die von Kontoinhabern, die sich bereit erklärt haben, dass ihre Daten für diesen Zweck genutzt werden dürfen – zur Verfügung und ein Teil der eingesparten Kosten fliesst zurück in die Genossenschaft.

Bleibt abzuwarten, ob diese Gelder am Ende nicht doch wieder bei den Aktionären landen. Was habe ich persönlich nun konkret davon, wenn ich Ihnen meine gesammelten Daten zur Verfügung stelle? Ausser dem guten Gefühl, dass ich einen Beitrag zur Forschung leiste. Können Sie mir meinen persönlichen Ernährungsplan erstellen, der mir hilft, mein Bauchfett loszuwerden?
Heute noch nicht, weil uns dazu die Daten fehlen. Aber das ist genau das Ziel, dass Sie mit Ihren Daten einen Beitrag leisten, um entsprechende Studien in Zukunft zu verbessern. Beim Thema Ernährung weiss man heute, dass nicht das Genom die entscheidende Rolle spielt, sondern das Mikrobiom, also Ihre Darmbakterien. Diese sind entscheidend dafür, ob Sie bei weissem Brot dick werden oder bei braunem. Das hängt von der individuellen Zusammensetzung der Darmflora ab. So werden in Zukunft Unternehmen entstehen, Daten-Dienstleister, die Ihnen aufgrund Ihrer Daten einen wirksamen Ernährungsplan erstellen können.

Kostenlos?
Midata bietet die Plattform und stellt sicher, dass Ihre Daten nicht weiterverkauft werden. Wir bringen Sie und Ihre Daten mit den diversen Anbietern der unterschiedlichsten Dienstleistungen zusammen. Diese Dienstleistungen der Drittanbieter bezahlen Sie dann, so wie Sie heute für Apple Music oder Netflix bezahlen. So wird ein neuer Markt für Dienstleistungen entstehen. Die Daten bleiben jedoch gesichert bei uns und Sie behalten die Kontrolle. Wenn Sie wollen, können Sie ihre Daten jederzeit löschen, oder auf eine andere Plattform wechseln.

Wie steht es um den Datenschutz?
Sie bestimmen, was mit Ihren Daten geschieht. Sie können diese zum Beispiel bei Midata lagern, ohne dass damit etwas geschieht. Eine Art Schliessfach, wenn wir beim Vergleich mit der Bank bleiben wollen. Niemand ausser Ihnen hat Zugang. Sie geben nur Ihre Ernährungsdaten für spezifische Studien zum Thema Ernährung frei. Oder eben für die klinische Studie für ein neues Krebsmedikament. Sie entscheiden, wem Sie wann welche Daten zur Verfügung stellen. Es geht schlussendlich um die demokratische, bürgerzentrierte Verwaltung unserer Daten.

Als Gegenmodell zu den USA und China.
Ganz genau. Wir sprechen vom marktorientierten Überwachungskapitalismus der USA, wie das die Harvard Soziologin Shoshana Zuboff in ihrem neuen Buch beschreibt, und dem staatlich kontrollierten Modell Chinas. Beides sind Überwachungsmodelle. Europa, und im speziellen der Schweiz, böte sich die Möglichkeit eines dritten Weges. Nicht unter der Kontrolle des Shareholders oder des Staates, sondern des Bürgers. Und die Wertschöpfung daraus ginge zurück an die Bevölkerung (Ernst Hafens Augen leuchten).

Dann muss ich mir in Zukunft auch noch ständig überlegen, wem ich wann welche Daten überlasse? Ich habe doch heute schon genug um die Ohren: Jedes Jahr die billigste Krankenkasse finden, das beste Mobilabo. Schaue ich meine Lieblingsserien auf Netflix, Sky oder doch HBO? Werden wir da nicht überfordert?
(Lacht) Mit demselben Argument wollte der Fürst im Mittelalter seinen Angestellten keinen Lohn bezahlen. Er sorgte für ein Dach über dem Kopf, Nahrung und Kleidung. Mit einem Bankkonto und einem Lohn, so seine Haltung, wären seine Mitarbeitenden überfordert. Es geht aber um Selbstbestimmung. Und ja, die ist anstrengender als Fremdbestimmung.

Herausforderungen und Chancen

Dies ist allerdings alles Zukunftsmusik. So ist die Analyse des eigenen Genoms ohne ärztliche Verschreibung in der Schweiz noch nicht möglich. Natürlich kannst du schon heute in ein Röhrchen spucken und deine DNA per Post in die USA schicken, wo diverse Firmen für ein paar Dollar dein Genom entschlüsseln. Und damit Geschäfte machen. Dafür erhältst du unter anderem eine Analyse deiner genetischen Herkunft, du erfährst, woher deine Vorfahren stammen. In den USA haben rund 30 Millionen Menschen eine solche Analyse gemacht. Und sind dabei auf bisher unbekannte Verwandte gestossen, oder ein Serienkiller konnte auf diesem (Um-)Weg identifiziert werden.

Datenschutz oder Fragen zur Ethik, wie zum Beispiel dem Umgang mit Public Exposure, der öffentlichen Zurschaustellung, sind dabei nur einige der vielen künftigen Herausforderungen. Aber es gibt eben auch grosse Chancen. Genauso wie die Tatsache, dass jeder sein Geld anders ausgibt und anlegt und so zum wirtschaftlichen Aufschwung beiträgt, kann die digitale Selbstbestimmung ein Schlüssel zu einer fairen und engagierten Zivilgesellschaft werden.

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Vom Radiojournalisten zum Produkttester und Geschichtenerzähler. Vom Jogger zum Gravelbike-Novizen und Fitness-Enthusiasten mit Lang- und Kurzhantel. Bin gespannt, wohin die Reise noch führt.


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