Der Pop-up-Effekt: Bis zu 48 Prozent mehr Veloverkehr
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Der Pop-up-Effekt: Bis zu 48 Prozent mehr Veloverkehr

Letztes Jahr wurde es zum Trend, Strassen schnell für den Veloverkehr freizuräumen. In Europa sind zahlreiche Pop-up-Radwege entstanden. Eine Studie hat untersucht, ob deshalb wirklich mehr Menschen aufs Velo umgestiegen sind.

Grossspuriger können Gesten kaum sein: Weg mit den Autos, her mit den Velos. Pop-up-Velowege stehen symbolisch für eine Verkehrswende, die in vielen Städten Fahrt aufnimmt. Seit gut einem Jahr ist ohnehin alles anders. Wir leben, arbeiten und bewegen uns im Rhythmus der Corona-Wellen. Das hat dazu geführt, dass Prioritäten neu gesetzt und unbürokratische Lösungen gesucht wurden. In vielen Städten sind Pop-up-Velowege entstanden. Strassenabschnitte, die spontan umgewidmet wurden, um dem durch die Pandemie ausgelösten Velo-Boom zu begegnen: Wer den ÖV meiden will, sattelt um. In der Schweiz hat sich vor allem die Romandie, allen voran Genf, für entsprechende Massnahmen eingesetzt. Dass sich das Mobilitätsverhalten im gesamten Land verändert hat, zeigt das Forschungsprojekt MOBIS-COVID-19.

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Die neue Velo-Welle

Das Velo wird wichtiger. Dazu passen die Verkaufszahlen der Branche: Über eine halbe Million Bikes wurden 2020 verkauft, ungefähr jedes dritte davon fährt elektrisch. Es ist eine Zeit des Umdenkens und tiefgreifender Veränderungen. Denn das zweite grosse Problem, das von der Pandemie derzeit überlagert wird, ist auch noch da und heisst Klimawandel. Die Gemengelage sorgt dafür, dass sich mancherorts politisch etwas bewegt.

In Frankreich wurde beispielsweise eine neue Form der Abwrackprämie auf den Weg gebracht: Statt einen Neuwagen zu subventionieren, gibt es bis zu 2500 Euro Prämie beim Umstieg auf ein E-Bike. Das ist schön – doch wohin mit all den Bikes? Bringen Pop-up-Wege die Verkehrswende voran oder sind sie nur Symbolpolitik?

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Verkehrskollaps trotz Bike-Bypass

Pop-up und unbürokratisch – das klingt in progressiven Ohren zunächst gut. Mancherorts haben die schnell entstandenen Velowege aber auch zu Ärger und unklaren Verhältnissen geführt. Staus und feststeckende Rettungsfahrzeuge neben kaum genutzten grosszügigen Velospuren sind Bilder, die den Gegnern solcher Massnahmen Auftrieb geben. Was bringt ein Bypass für Bikes, wenn dadurch die nächste Arterie verstopft und zum Verkehrskollaps führt? Mancherorts sind die Pop-up-Spuren längst wieder entfernt, was hohe Kosten zur Folge hatte: In Southampton wurden alleine für den Rückbau eines Kilometers 37 000 Pfund veranschlagt.

Nicht jede Pop-up-Spur ist in der öffentlichen Wahrnehmung ein Erfolg. Mit ein paar Pylonen auf der Strasse ist es eben doch nicht getan und eine Umverteilung öffentlicher Verkehrsflächen führt unweigerlich zu Grabenkämpfen. Um nicht nur emotional zu argumentieren, ist es wichtig zu wissen, welchen Effekt die zusätzlichen Velowege haben. Bewegen sie tatsächlich mehr Menschen zum Umsteigen oder freuen sich nur die eingefleischten Velofahrer*innen über zusätzlichen Platz? Das Berliner Klimaforschungsinstitut MCC hat sich dieser Frage angenommen und die Ergebnisse in der renommierten Fachzeitschrift Proceedings of the National Academy of Sciences veröffentlicht.

Daten aus 106 europäischen Städten

Den Effekt entsprechender Massnahmen in verschiedenen Städten zu vergleichen und eine allgemeine Schlussfolgerung daraus zu ziehen, klingt nach einer komplizierten Aufgabe. Ist es auch. Wer aus welchen Motiven in welcher Stadt aufs Velo steigt, lässt sich schwer erfassen. Mit den Erhebungen von 736 amtlichen Fahrradzählstationen in 106 europäischen Städten sowie dem Monitoring des Europäischen Radfahrerverbands zu «Corona-Radwegen» hatten die Autoren der Studie eine grosse Datenbasis.

Die European Cyclists' Federation erfasst, wo Infrastrukturprojekte geplant oder bereits umgesetzt sind.
Die European Cyclists' Federation erfasst, wo Infrastrukturprojekte geplant oder bereits umgesetzt sind.

Ein Teil der Städte, aus denen die Daten stammen, hatte provisorische Velowege eingerichtet. Durchschnittlich waren sie 11,5 Kilometer lang. Die anderen Städte verzichteten darauf. Man kann nicht Äpfel mit Birnen oder Wien mit Dublin vergleichen. Deshalb wurden in Regressionsanalysen «Störfaktoren» herausgerechnet, um nicht den allgemeinen Velo-Boom oder lokal unterschiedliche Gegebenheiten abzubilden. Das sind zum Beispiel die Qualität des öffentlichen Nahverkehrs, der Lebensstil, das Wetter oder die Topographie der verschiedenen Orte. Allesamt Einflüsse, die entsprechend mehr oder weniger Menschen zum Umstieg aufs Bike bewegen könnten. Am Ende steht in der Studie naturgemäss nicht die reine Wahrheit, sondern die wissenschaftliche Annäherung daran und ein Fazit, das statistische Unsicherheiten berücksichtigt. Demnach haben die Pop-up-Velowege im Zeitraum von März bis Juli 2020 für 11 bis 48 Prozent zusätzlichen Radverkehr in den entsprechenden Städten gesorgt. Das unterstreicht den Nutzen der Provisorien. Wenn Hauptstrassen sicher befahrbar sind, steigen deutlich mehr Leute um.

Die Chance, hier mit wenig Aufwand den Verkehrsmittel-Mix erheblich zu beeinflussen, wird in vielen Städten zu Unrecht vernachlässigt.
Leitautor Sebastian Kraus in der Pressemeldung zur Studie

Argumente für neue Wege

In jedem Fall liefert die Studie Argumente für Gruppen wie die «Velo Mänsche Züri», die sich unter velowege.jetzt mit konkreten Vorschlägen für Pop-up-Wege an die Stadtregierung wenden. Dass sich die Bürger*innen von verbesserter Infrastruktur zum Umsteigen bewegen lassen, zeigt auch das Beispiel Sevilla: In der andalusischen Hauptstadt hat sich die Zahl der Velofahrenden verfünffacht, nachdem zwischen 2006 und 2011 in 120 Kilometer vom Autoverkehr separierte Velowege investiert wurde. Dort schlug ein ordentlich gebauter Kilometer allerdings auch mit einer Viertelmillion Euro zu Buche, während in Berlin, der Hauptstadt der Provisorien, eine Pop-up-Spur nur 9500 Euro pro Kilometer kostete. Verglichen mit anderen Massnahmen ist das fast geschenkt und trotzdem ein vielversprechender Anfang.

Ob der Effekt der Pop-up-Radwege von Dauer ist oder mit der Pandemie endet, ist offen. Aber die Chance ist da. Dafür müssten die Provisorien zu Dauereinrichtungen werden und neue Wege entstehen. Der gesellschaftliche Nutzen könnte gross sein: In der Schweiz bezifferte das Bundesamt für Raumentwicklung den Gesundheitsnutzen durch Velofahrende zuletzt mit 456 Millionen Franken. Leider lagen die (Unfall-)Kosten mit 554 Millionen noch darüber. Es wäre doch schön, diese Bilanz möglichst bald ins Positive zu drehen.

Titelbild: Wikimedia Commons/Ibex73/CC BY-SA 4.0

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Sportwissenschaftler, Hochleistungspapi und Homeofficer im Dienste Ihrer Majestät der Schildkröte.


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