Mit dem Velo über Gleise
Ab welchem Anfahrtswinkel sinkt das Unfallrisiko deutlich?
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Der Wettbewerb ist inzwischen beendet.
Tram- und Bahngleise liegen als Unfallursache statistisch auf einem traurigen dritten Platz. Für Velopneu sind sie die perfekte Falle. Es laufen Versuche, sie zu entschärfen – doch vorerst rettet dich nur der richtige Winkel.
Sie durchschneiden den Asphalt und treiben Velofahrenden regelmässig Angstschweiss auf die Stirn. Tram- und Bahnschienen sind im Verkehr unverzichtbar, aber für Zweiräder eine grosse Gefahr. Laut Suva spielen bei Fahrradunfällen nur zwei Faktoren eine noch grössere Rolle: Andere Fahrzeuge und «Details im Strassenbau», die vom Randstein bis zum Riss im Boden so ziemlich alles sein können. In rund 1500 Fällen jährlich sind Gleisanlagen der Grund für Stürze, die schwer genug sind, um in die Statistik einzugehen.
In dieser Schweizer Studie aus dem Jahr 2014 wurden Unfälle mit E-Bikes untersucht, bei denen die Opfer in der Notaufnahme gelandet sind. Auch darin heben die Autor*innen hervor, dass Tramgleise mit knapp 22 Prozent ein sehr häufige Sturzursache waren. Und dieser druckfrische Fachbeitrag mit dem schönen Titel «Tram, rail, bicycle: An unhappy triad?» beschäftigt sich mit der Unfallhäufung und den klinischen Folgen in Bern. Zwischen 2013 und 2016 stiegen die Fallzahlen beispielsweise um ganze 132 Prozent. Es ist anzunehmen, dass dabei der E-Bike-Boom eine Rolle spielt.
Doch egal, ob du motorisiert oder nur mit Muskelkraft auf dem Rennvelo oder City-Bike unterwegs bist: Irgendwann hat jede*r einen ganz persönlichen Schienen-Schreckmoment. Ich gehöre zur Gleissturz-Dunkelziffer und tauche in keiner Statistik auf, habe mir vor ein paar Jahren aber auch schon ein Oberschenkel-Peeling auf Asphalt geholt, nachdem mein Vorderrad auf einer Abfahrt über einen regennassen Schienenstrang gerutscht ist. Ich hatte das Glück im Unglück, nicht in den Gegenverkehr zu schliddern. Seither fährt bei jeder Überquerung ein mulmiges Gefühl mit.
Wer in der Stadt und nicht gerade auf einem Fatbike unterwegs ist, erlebt solche Situationen täglich: Mal zwingt dich ein halb auf der Strasse parkiertes Auto zu einem Schlenker, mal verengt sich die Strasse an der Tramhaltestelle und führt dich in fiesen Winkeln übers Gleis, mal balancierst du beim Linksabbiegen mit einer Hand am Lenker über die Schienen. Oder es gerät der Veloanhänger mit einem Rad in die Falle und bringt dich fast aus dem Gleichgewicht.
Immer erfordern die Gleise Konzentration, die eigentlich dem Verkehr gelten sollte. Häufig sind an entsprechenden Stellen Schulterblick und Handzeichen fällig, du musst die Vorfahrt beachten, zügig beschleunigen und mehrere Schienen überwinden. Zur Gefahr durch Tram- und Autoverkehr kommt die Falle im Asphalt. Ziemlich viel auf einmal. Aber die Abwägung, wie du das Hindernis im Boden in Angriff nimmst, ist nunmal entscheidend.
Besonders, wenn dir der Berufsverkehr im Nacken hängt, ist die Situation stressig. Was tun? Mit viel Speed in flachem Winkel über den kleinen Canyon im Asphalt springen? Abbremsen und nach rechts ausholen, um den Winkel zu vergrössern? Das wäre sicherer, sofern die Person am Steuer des Autos hinter dir die Bewegung nach rechts nicht als Überholeinladung interpretiert. Und das wird gefühlt jede zweite tun. Meistens führt die Situation zu einem gefährlichen Kompromiss. Du bugsierst dich irgendwie hinüber und bist heilfroh, wenn es mal wieder gutgegangen ist. An dieser Stelle ein kleines Quiz: Was meinst du, ab welchem Winkel du mit grosser Wahrscheinlichkeit sicher auf die andere Seite kommst?
Ab welchem Anfahrtswinkel sinkt das Unfallrisiko deutlich?
Der Wettbewerb ist inzwischen beendet.
Dass entsprechende Zahlen existieren, ist einer weiteren Studie zu verdanken, die Kamerabilder an einem Bahnübergang ausgewertet hat. Nach über zwei Monaten und ganzen 32 Velostürzen waren die Autor*innen einerseits von der hohen Fallzahl überrascht. Ungefähr jeden zweiten Tag ging ein Biker zu Boden. Auch hier kristallisierte sich heraus, dass die meisten Unfälle ungemeldet blieben. Andererseits stellten sie fest, dass du ab einem Winkel von 30° relativ sicher unterwegs bist. Bei 90 Prozent der Stürze war der Winkel spitzer. Immerhin schaffte es jede vierte Person auch dann noch heil über das Hindernis. War der Winkel grösser als 60°, gab es keinen Sturz mehr, was ein schöner Fingerzeig für die vernünftige Verkehrsführung von Velowegen ist.
Die weiteren Erkenntnisse, dass Rennvelos, Nässe und ein Griff in die Bremsen das Sturzrisiko erhöhen, überraschen nicht. Dass Frauen, genau wie in der oben erwähnten Berner Studie, bei den Stürzen überrepräsentiert sind, dagegen schon: Nach der Videoüberwachung und wissenschaftlichem Statistikzauber kommen die Autor*innen auf eine repräsentative Gruppe, in der nur 17 Prozent Frauen vertreten aber in 38 Prozent der Unfälle verwickelt sind. Eine Erklärung dafür fand das Forscherteam nicht. Unzweifelhaft lässt sich festhalten: Das Problem, das die Gleise darstellen, ist schon lange erkannt. Und jetzt?
Ich bin ziemlich überrascht, als ich lese, dass fast vor meiner Haustüre vor ein paar Jahren ein Modellversuch lief. An der Haltestelle Schwert in Zürich wurden die Gleise 2007 und 2013 mit Kunststoffen aufgefüllt, die die Falle für Velos beseitigen und unter dem Gewicht der Tram nachgeben sollten. Das taten sie auch. Ein voller Erfolg war der Versuch trotzdem nicht, denn die teure Füllung war ziemlich schnell wieder weg. Das Material bröckelte und wanderte, bis nichts mehr übrig war als die Mehrkosten von 415 000 Franken.
Es müssen also bessere Lösungen her. Seit 2019 sind die Basler Verkehrs-Betriebe daran, ein neues Tramgleis mit Gummifüllung zu testen. Die erste Phase lief vielversprechend, das Feedback ist durchwegs positiv. Ab Sommer dieses Jahres soll das System an der Haltestelle Bruderholzstrasse eingebaut werden, um weitere Erfahrungen zu sammeln. Auch in Basel sind Haltbarkeit und Kosten die Knackpunkte: Mehr Sicherheit gibt's nicht zum Nulltarif.
Der Einbau von velofreundlichen Gleisen bei einer Haltestelle koste rund 80 Prozent mehr als der Einbau von herkömmlichen Gleisen und auch der Unterhalts- und Wartungsbedarf liege deutlich höher. Und so heisst es in einer Medienmitteilung: «Sollte das velofreundliche Gleis dereinst an sämtlichen Kaphaltestellen im Kanton eingebaut werden, so dürften die Mehrkosten gemäss heutigem Wissensstand bei rund 20 bis 30 Mio. Franken liegen.» Bis es flächendeckend so weit ist, dass heikle Stellen entschärft werden, werden wir wohl noch einige Jahre mit dem Spalt im Asphalt leben müssen und es gilt die Faustformel: Je grösser der Winkel, desto kleiner der Nervenkitzel. Ist er spitzer als 30°, macht dein Schwalbe-Reifen vermutlich den Abflug.
Sportwissenschaftler, Hochleistungspapi und Homeofficer im Dienste Ihrer Majestät der Schildkröte.